ahnenschrei  Die Leiche stand schon vor ihm am Kreidestrich und durchbohrte ihn mit ihren toten, grün gewordenen Augen. Der Bursianer zuckte zusammen, und Eiseskälte fuhr ihm spürbar durch alle Glieder. Er heftete die Augen auf das Buch, begann seine Gebete und Bannflüche lauter aufzusagen und hörte, wie die Leiche wiederum die Zähne aufeinanderschlug und mit den Armen umherfuchtelte, um ihn zu fangen. Als er jedoch mit einem Auge halb nach der Leiche schielte, gewahrte er, daß sie nicht dort nach ihm haschte, wo er stand, und daß sie ihn anscheinend gar nicht sehen konnte. Sie begann dumpf zu knurren und fing an, mit ihrem toten Mund schreckliche Worte zu murmeln; heiser zischten sie auf wie das Gebrodel siedenden Pechs. Was sie bedeuteten, hätte er nicht sagen können, doch mußten sie Fürchterliches enthalten. Der Philosoph begriff in seiner Angst, daß sie Beschwörungsformeln sprach.

Ein Wind erhob sich von den Worten in der Kirche, und es war ein Rauschen wie von unzähligen flatternden Ungeheuern zu vernehmen. Er hörte, wie sie mit den Flügeln an die Scheiben der Kirchenfenster und an die eisernen Rahmen schlugen, wie sie heulend mit den Krallen an dem Eisen kratzten und wie eine unermeßliche Schar gegen die Tür donnerte und sie aufbrechen wollte. Wild schlug die ganze Zeit über sein Herz; er schloß die Augen und sprach eifrig Bannflüche und Gebete. Endlich gellte in der Ferne etwas: es war das entfernte Krähen eines Hahnes. Der völlig erschöpfte Philosoph hielt inne und atmete auf. - Nikolaj Gogol, Der Wij. In: N.G., Sämtliche Erzählungen. Stuttgart u. Hamburg 1961

Hahnenschrei (2)    Nicht nur einmal geschah es, daß beim Mittagessen, wenn wir uns schon alle zu Tisch gesetzt hatten, der Vater fehlte. Dann mußte die Mutter lange »Jakub!« rufen und mit dem Löffel auf den Tisch schlagen, ehe er aus irgendeinem Schrank herauskroch, von oben bis unten mit Spinnweben und Staub verklebt, mit geistesabwesendem Gesicht, in verworrene und nur ihm bekannte, fesselnde Dinge vertieft. Mitunter kletterte er auf die Vorhangstangen und nahm eine regungslose Pose ein, einem großen, ausgestopften Geier gegenüber, der auf der anderen Seite des Fensters an der Wand aufgehängt war. In dieser regungslosen, zusammengekauerten Pose verharrte er mit verschleiertem Blick und schlau lächelndem Gesicht stundenlang, um plötzlich, wenn jemand hereinkam, mit den Armen wie mit Flügeln zu schlagen und wie ein Hahn zu krähen. - Bruno Schulz,  Heimsuchung. In: (bs)

Hahnenschrei (3)  DER HAHN. Er spielt in den Vorstellungen des ältesten China eine sehr große Rolle. Auf ien Karren, mit denen Opfer zu den Gräbern gefahren werden, sieht man zwischen den Stangen, die zum Ziehen dienen, einen Hahnenkopf. Ein lebender weißer Hahn wird auf den Katafalken, welche Leichen enthalten, die noch längere Zeit nicht begraben werden sollen, angebunden. An einer Stelle wird auch der Hahnenruf gedeutet: Da ist sie. Wenn man damit vergleicht, daß wir z. B. den Hahnenschrei, der an sich so wenig Konsonantisches enthält, daß alle Völker in ihm absolut Verschiedenes hören, als kikeriki interpretieren, so ist es selbstverständlich, daß dieses nichts anderes bedeutet, als Kuk-Ra. Der Hahn ist in China der Vertreter der Sonne, der Vertreter des Yang, während der Hase den Mond und das Yin vertritt. Der Chinese sagt: Das Feuer flammt nach oben, und so gehört es zur Sonne und zum Yang. Beim Hahn flammt ebenfalls das Feuer auf: Er hat immer das Streben, den höchsten Punkt des Geflügelhofes einzunehmen, die Stimme eilt der Sonne entgegen und der Kamm des Hahnes gleicht den Flammen. Wie könnte also der Hahn etwas anderes sein, als das Tier des Yang.  - Ernst Fuhrmann, Das Tier in der Religion. München 1922

Hahnenschrei (4)  

- Max Ernst, Une Semaine de Bonté. New York 1976 (zuerst 1934)

Hahnenschrei (5)  Im unmittelbaren Nebeneinander  wurde mit dem längeren Selbstgespräch von Pilatus wie auch mit den Pantomimenpossen Capporellis, in denen der Clown von Gruppe zu Gruppe zog, Christus vor Kaiphas geführt, und Petrus verleugnete Christus. Der Hahn wurde ins Spiel gebracht. Dies war sogar den beiden Dublinern ein zu gewagtes Experiment. Sie behaupteten, es wäre eine so tiefe und ursprüngliche Poesie um das Krähen der Hähne, getränkt vom Tau zehntausend schmerzlicher Morgendämmerungen menschlichen Leidens, erfüllt von solch fragwürdiger, verräterischer, aber doch homerischer Prahlerei und befrachtet mit Erinnerungen an Frauen in den Wehen, an sterbende Soldaten, an Millionen gefolterter, gefangener und hingerichteter Opfer der Gesellschaft, Erinnerungen an schlaflose Nächte, Erinnerungen an Wahnsinn, Erinnerungen an Liebe - daß es vulgär, gotteslästerlich, ja, eine Verletzung der Würde des menschlichen Geistes, pietätlos, grob, beleidigend und lächerlich wäre, einen pantomimischen Hahn auf die Bühne zu bringen. Außerdem - so argumentierten die beiden Dubliner - sähe kein menschliches Auge je wirklich den Hahn, der ihnen die Augenlider öffnet. Das Krähen des Hahns berge auch das leidenschaftliche Aufbegehren aller verzweifelten Verliebten in sich, die wie Romeo und Julia die Ankunft der Morgendämmerung am liebsten aufhalten würden, wenn sie es nur könnten! Es sei - wandten die Dubliner ein - zu einem ewigen Symbol der Menschheit geworden, das von Ultima Thule bis Tibet, von Grönland bis zum Kap der guten Hoffnung erkannt wird; und wenn eine sichtbare Verspottung dieser Sache in eine Aufführung hereingenommen wird, wäre das nicht bloß aristophanisch. Es wäre diabolisch.

Doch der junge Dichter aus Middlezoy wehrte diese Argumente ab, indem er sagte, daß Petrus' Verrat an Christus die große Beleidigung des Urmysteriums des Hahnenschreis war und daß durch die sichtbare Darstellung des Hahns dieser Verrat so angeprangert würde, wie er es verdiente; und auch daß so und nur so seine tragische Verwerflichkeit, Niedrigkeit, Schwachheit und Feigheit betont und fühlbar gemacht würde, wie es ihm angemessen war.

Großmutter Cole, neben Mrs. Robinson sitzend, hatte zu dieser Angelegenheit ein weises Wort zu sagen. Als sie plötzlich, wie aus dem Abhang aufgetaucht, einen bewundernswert ausgestalteten, überaus genau getroffenen Hahn auf den Stufen der hölzernen Rednerbühne von PÜatus hocken sah, bemerkte die alte Meß-gewänderputzerin zu dem ehemaligen Dienstmädchen aus dem Bischofspalast: »Der Vogel da mit dem roten Kamm is gekommen, um alle Männer zu beschämen, die ein Herz nich größer wie das von nem Küken haben. Mein Alter hat allweil gesagt, wenn er den lauten Vogel da gehört hat: »Ihr Weibervolk seid alle brütende Hennen. Es braucht nen Mannsvogel, um die blutrote Sonne herzurufen!« - (cowp)

Hahnenschrei (5)   --------- Was mir der Hirte von dem Geschenk erzählte, das mir die schwarze Isaïs dereinst geben würde, verstand ich nur zur Hälfte — war ich ja damalen selber nur ein >Halber< —, denn wie mochte es zugehen, daß aus dem Unsichtbaren ein leibhaftger Gegenstand herauskäme! — Als ich ihn fragte, woran ich erkennen könnte, daß die Zeit dazu gekommen wäre, sagte er: »du wirst den Hahn krähen hören.« — Das wollte mir nicht in den Sinn; krähen doch jeden Morgen in den Dörfern die Gockel. Auch konnte ich nicht fassen, was es Bedeutsames sey, auf Erden Furcht und Schmerz nicht mehr zu kennen, maßen mir es ein geringes schien, denn ich glaubte, selber schon ein genug furchtloser Geselle zu sein. Aber als die Jahre des Reifwerdens um waren, hörte ich den Hahnenschrei, den er gemeint hatte, das ist: in mir selbst--------- habe bis dahin nicht gewußt, daß alles erst im Blute des Menschen geschehen muß, ehe es außen zur Wirklichkeit gerinnen kann. Ich bin auch sodann des Geschenkes der Isaïs — des >silbernen Schuhes< teilhaftig worden; ich hatte in der langen Wartezeit bis dahin gar seltsame Gesichte und Vorgänge am Leibe, als da sind: Berührungen nasser unsichtbarer Finger, Geschmack der Bitterniß auf der Zunge, Brennen auf dem Scheitel, als senge ein heiß Eisen mir eine Tonsur in das Haupthaar, Stechen und Bohren in den Flächen der Hände und Füße und ein heimlich Miauen in den Ohren. — Schriftzeichen, so ich nicht lesen konnte, da ähnlich anzusehen gewesen wie die derer Juden, tauchten von innen heraus auf meine Haut wie ein Ausschlag, vergingen aber alsbald wieder, wenn die Sonne darauf schien. Bisweilen mich auch ein heißes Sehnen überkam nach etwas Fraulichem, das aber in mir selbsten war und mir umso verwunderlicher schien, als ich von je ein tiefes Grausen gehabt vor denen Weibern und ihren Sauereyen, so sie mit den Männern allenthalben zu tun pflegen.--------

Dann, nachdem ich den Hahnenschrei in meinem Rückgrat hatte hören aufsteigen und, wie mir vorausgesagt worden, als eine Taufen ein kalter Regen auf mich herniedergegangen, so doch keinerlei Wolken über mir zu sehen gewesen, ging ich in der Druidennacht des ersten Maien auf die Moorhaide der kreuz und quer, und stand, ohne zu suchen, alsbald vor dem Loch in der Erde.----------     - Gustav Meyrink, Der Engel vom westlichen Fenster. München 1984 (zuerst 1927)

 

Hahn Morgen

 

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