aarflut   Der Grabstein sprang beim ersten Schlag mit der Hacke in Stücke, und aus der Öffnung ergoß sich, leuchtend kupferfarben, eine lebendige Haarflut. Der Maurermeister wollte sie mit Hilfe seiner Arbeiter unbeschädigt bergen, und je mehr sie zogen, desto länger und fülliger erwies sie sich, bis die letzten Haare, die noch an einem Kinderschädel hafteten, herauskamen. In der Nische blieben nur ein paar kleine und verstreute Knöchelchen zurück, und auf dem eingemauerten, vom Salpeter zerfressenen Gedenkstein war nur ein Name ohne Nachnamen lesbar: Sierva María de Todos los Ángeles. Auf dem Boden ausgebreitet maß die herrliche Haarmähne zweiundzwanzig Meter und elf Zentimeter.

Der Maurermeister erklärte mir unbeeindruckt, daß menschliches Haar einen Zentimeter im Monat wächst, auch noch nach dem Tod, und zweiundzwanzig Meter erschienen ihm ein guter Schnitt für zweihundert Jahre. Mir hingegen erschien das nicht so gewöhnlich, denn meine Großmutter hatte mir als Kind die Legende von einer zwölfjährigen Marquesita erzählt, die ihre Haarmähne wie eine bräutliche Schleppe hinter sich hergezogen hatte, an der Tollwut gestorben war und in den Dörfern der Karibik wegen ihrer vielen Wunder verehrt wurde. - Gabriel García Márquez, Von der Liebe und anderen Dämonen. München 2001 (zuerst 1994)

Haar
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