ymnastik  Von ihrer Roßkur befriedigt, faßten sie den Plan, ihre körperliche Verfassung durch Gymnastik zu verbessern. Und da sie das Handbuch von Amoros im Hause hatten, blätterten sie die Tafeln des Abbildungsteils durch.

Alle diese jungen Burschen, die sie da niederkniend sahen, in rückwärtiger Rumpfbeuge, aufrechtstehend, ein Bein anwinkelnd, die Arme spreizend, die Fäuste ballend, Gewichte stemmend, auf Balken balancierend, Leitern und Sprossenwände erklimmend, an Trapezen schwingend - eine solche Entfaltung von Kraft und Beweglichkeit erweckte ihren Neid.

Gleichwohl entmutigten sie die im Vorwort beschriebenen Prunkstücke der Turnhalle. Denn niemals würden sie in der Lage sein, über eine eigene Kammer für die Geräte zu verfügen, über ein Hippodrom für die Laufdisziplinen, ein Wasserbecken für die Schwimmübungen, noch gar über einen »Ruhmeshügel«, einen künstlichen Kletterfelsen von zweiunddreißig Metern Höhe.

Ein gepolstertes hölzernes Seitpferd mit Pauschen wäre zu aufwendig gewesen - also verzichteten sie darauf; die gefällte Linde im Garten diente ihnen als Schwebebalken, und als sie ihn vom einen bis zum anderen Ende überqueren konnten, pflanzten sie, um auch über eine senkrechte Kletterstange zu verfügen, eine Stütze des Gegenspaliers um. Pécuchet kam bis ganz oben. Bouvard blieb immer wieder kleben, rutschte zurück und gab es schließlich völlig auf.

Ihm sagten die »orthosomatischen Stäbe« mehr zu, das heißt zwei Besenstiele, verbunden durch zwei Seile, deren eines unter den Achselhöhlen verlief, während das andere mit den Handflächen gespannt wurde; und stundenlang bediente er sich dieser Vorrichtung, mit erhobenem Kinn, die Brust vorgewölbt und die Ellenbogen fest an den Körper gepreßt.

Als Ersatz für richtige Hanteln mußte ihnen der Wagner vier Kloben Eschenholz glätten, die sich zu Flaschenhälsen verjüngenden Zuckerstücken glichen. Diese Keulen mußten nach rechts, nach links, nach vorn und nach hinten geschwungen werden. Aber da sie zu schwer waren, rutschten sie ihnen aus den Händen und drohten ihnen die Beine zu brechen. Einerlei, sie verbissen sich geradezu in die Übungen mit ihren »persischen Spindeln«, und vor lauter Angst, sie könnten rissig werden, rieben sie sie jeden Abend mit Wachs ein und polierten sie mit einem weichen Putzlappen.

Dann suchten sie nach Wassergräben. Als sie einen für ihre Zwecke passenden gefunden hatten, stachen sie einen langen Stab in der Mitte ein, stießen sich, das andere Ende umklammernd, mit dem linken Fuß ab, erreichten das gegenüberliegende Ufer und vollzogen die Übung dann in umgekehrter Richtung. Da das Land tellereben war, konnte man sie schon von weitem sehen; - und die Dörfler fragten sich, was das wohl für zwei komische Dinger sein mochten, die da am Horizont herumkapriolten.

Zu Herbstbeginn machten sie sich an die Zimmergymnastik; sie fanden sie langweilig. Schade, daß sie keinen Schaukelstuhl oder Standsessel hatten, wie er zu Zeiten Ludwigs XIV vom Abbé de Saint-Pierre erfunden worden war! Wie er wohl konstruiert sein mochte? Und wo konnte man etwas darüber erfahren? Auf ihre Anfragen geruhte Dumouchel nicht einmal mehr zu antworten.

Dann bauten sie sich im Backhaus eine Armwippe. Durch zwei an der Decke befestigte Leitrollen lief ein Seil, mit einem Querholz an jedem Ende. Sie war so konstruiert, daß, wenn der eine sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme hob, der andere mit den Fingerspitzen den Boden berührte; dann lupfte der erste durch sein Gewicht den zweiten an, der, dem Seildruck nachgebend, seinerseits emporschnellte; in weniger als fünf Minuten troffen ihnen die Glieder von Schweiß.

Um den Anweisungen des Handbuches besser gerecht zu werden, versuchten sie beidhändig zu operieren, bis sie zeitweilig sogar ganz auf die rechte Hand verzichten konnten. Und mehr noch: Amoros gab die Merkverse an, die bei den Übungen skandiert werden sollten, und Bouvard und Pécuchet wiederholten im Gleichtakt die Zeilen von Lied Nr. 9: »Ein Herr, großer Herr, ist ein Glück auf der Welt.« Wenn sie sich auf die Brustmuskeln trommelten: »Die Freunde, die Krone, der Ruhm« und so weiter. Und im Laufschritt:

Unser ist der flücht'ge Hirsch!
Wir stellen ihn auf hitz'ger Pirsch!
Zu Holz! Im großen Haufen:
Laufen! Laufen! Laufen!

Und wie Jagdhunde hechelnd, feuerten sie sich gegenseitig mit lauter Stimme an. - Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Frankfurt am Main 2003 (Die Andere Bibliothek 222, zuerst 1881)

Gymnastik (2)  Schöne Sachen könnten wir  erfahren, wenn wir anfingen nachzuprüfen, inwieweit eine Person, die sich an Bach begeistert, sich überhaupt an Bach zu begeistern vermag, das heißt, inwieweit sie dazu fähig ist, etwas aus der Musik Bachs zu erfassen. Ist es mir doch passiert (obwohl ich auf dem Klavier nicht einmal ›Hänschen klein‹  klimpern kann), nicht ohne Erfolg zwei Konzerte zu geben - Konzerte, die darin bestanden, daß ich ohne allen Sinn und Zusammenhang auf dem Instrument lospaukte, nachdem ich mir vorher den Applaus von einigen in meine Intrige eingeweihten Kennern gesichert und verkündet hatte, daß ich moderne Musik spielen werde. Welch ein Glück, daß diejenigen, die in Valérys erhabener Art und Weise über die Kunst disputieren, sich nicht zu solchen Konfrontationen herablassen. Wer von dieser Seite an unsere ästhetische Messe herangeht, kann mit Leichtigkeit entdecken, daß dieses Königreich scheinbarer Reife gerade das allerunreifste Höfchen der Menschheit ist, wo Bluff, Mystifikation, Snobismus, Falschheit und Dummheit regieren. Und für unser steifes Denken wird es eine gute Gymnastik sein, wenn wir uns von Zeit zu Zeit Paul Valéry persönlich als Priester der Unreife vorstellen, als einen barfüßigen Priester in kurzen Hosen. - (gom)

Gymnastik (3)

- Kawanabe Kyosai

Gymnastik (4)  Die Idee der Gymnastik ist entscheidend — Darin gründet meine Philosophie.

Beständige Bewegungsübung der beiden großen gegenläufigen Operationen: vom Bewußten zum Unbewußten wechseln, vom Unbewußten zum Bewußten.

Es gibt keine Philosophie, die vor der Ausübung und Gymnastik des Denkens bestehen könnte. Das ist das Wichtige, wenn denn irgend etwas im Bereich der mentalen Operationen wichtig ist, wo es keine Verifikation, keine Sanktion oder gesicherte Anwendung gibt. Gerade das wird aber durch den Unterricht verdorben und durch den Historismus, der mit seinem Aussatz das Leben überzogen hat.   - (pval2)

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