üte
Elsa Brandström, die während des Krieges und
nachher unseren Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien eine
Vorsehung gewesen ist. Äußerlich ein auffallend hübsches, vornehmes,
schlankes, blondes Mädchen, eine nordische
Jeanne d'Arc. Ganz unkompliziert, aber stark. Ein erschütterndes
Beispiel dafür, was ein einfacher Mensch mit gutem Willen, Mut
und Takt erreichen kann. Für Hunderttausende ist sie jahrelang
der einzige Mensch gewesen. Eine wahre Heldin. Sie machte auf
mich denselben tieferregenden Eindruck wie Nansen. Die
schönen, klaren blauen Augen, die etwas schwere, willensstarke
Nase, das schmale, vornehme Gesicht, die
Einfachheit des Tones, als ob alles selbstverständlich wäre.
Fünfeinhalb Jahre war sie in Sibirien, zwei Jahre vollkommen
abgeschnitten von ihrer Familie und jeder Nachricht, am Flecktyphus
schwer erkrankt und doch gleich wieder weiterarbeitend, zweimal
als Spionin zum Tode verurteilt, und doch noch so einfach, so
voller Güte wie am ersten Tage und so schön wie eine Ballkomtesse.
Solche Menschen, wo Kraft zur Güte wird
und doch noch Kraft bleibt, sind die wahren Übermenschen. Nicht,
daß sie Tausenden das Leben gerettet hat, sondern daß sie ihnen
den Glauben an die Menschheit gerettet
hat, ist das tief Bewegende an ihr.
Sie erzählte: einmal habe sie die Nachricht erhalten, ihr
Vater sei todkrank; sie hätte zurückgekonnt, aber sie blieb,
denn ihr Vater hätte alles, was nur möglich sei an Hilfe, aber
draußen um sie herum verlören Tausende ihre letzte Hoffnung,
wenn sie fortginge. Und ihr Vater wurde gerettet wie durch ein
Wunder. Als sie zurückkam nach Jahren, habe er ihr gesagt, er
hätte sie verachtet, wenn sie zurückgekommen wäre. Sie sagte
mir, ihre früheren deutschen Kriegsgefangenen aus Sibirien seien
heute noch wie eine Familie. Sie hätten von den Russen das Beste
gelernt: die Anerkennung des Gegners, die tiefe, warme Menschlichkeit,
die unterschiedslose Kameradschaft. Die Bolschewiki seien besser
gewesen als die kaiserlichen Beamten. Über die Schlampigkeit
des kaiserlichen Regimes erzählte sie Entsetzliches. 1915 hätten
sie einen Zug mit gefangenen Türken
in Moskau auf ein Nebengeleise geschoben, wo die Gefangenen in
plombierten Waggons erfroren seien; als man die Waggons öffnete,
habe man die Leichen mit Hacken aus dem Eise heraushauen müssen.
So sei es auch in Pensa und andren Orten gegangen. Nicht aus
Bosheit, sondern aus Schlampigkeit:
Nitschewo. Vieles andre noch. Alles mit erschütternder Einfachheit
und Selbstverständlichkeit erzählt, während sie eine Tasse Tee
trank und einen kleinen Kuchen mit der Gabel zerkleinerte oder
mit der Perlenkette spielte, die sie am Halse trägt. Sie unterhält
noch ein Kinderheim in Sachsen für Kinder von Kriegsgefangenen,
denen sie auf ihrem Totenbett versprochen hat, für ihre Kinder
zu sorgen. Ich hatte den Eindruck: ein einfacher, aber ganz großer,
hinreißender Mensch, eine weltliche Heilige, vor der man knien
möchte. - Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis
1937. Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982 (it
659)
Güte (2) Dse-dschang fragte: Als Tsue-dse den Fürsten von Tschi ermordete, trennte sich Tschen Wen-dse willig von den zehn Viergespannen, die er besaß, und kehrte dem Land den Rücken. Im nächsten Staat, in den er kam, bemerkte er alsbald: Die hohen Herren hier sind nicht besser als unser Tsue-dse. Und so kehrte er auch diesem Land den Rücken. Und wieder kam er in einen anderen Staat und sagte: Die hohen Herren hier sind nicht besser als unser Tsue-dse daheim. Was haltet Ihr von ihm?
Der Meister sprach: Ein lauterer Charakter, fürwahr.
Und war er auch gütig? fragte Dse-dschang.
Der Meister sprach: Ich wüßte es nicht zu sagen. Wie könnte man so leicht
auch gütig sein? - (
kung
)
Güte (3) Der Professor
Simoni hatte einen unerträglichen Charakter, aber ein Glas Wein genügte, um
ihn in eine sanfte, optimistische Seele von franziskanischer Güte zu verwandeln.
Um seine bösartige Natur nicht zu offenbaren, trank er mit Heroismus und zeigte
sich äußerst umgänglich, indem er seine Sanftmut im
Alkohol konservierte, das geeignetste Erzeugnis für schwierige Konservierungen.
Er ließ nie einen Schüler durchfallen, denn vor den Prüfungen
goß er die doppelte Ration hinter die Binde, und die Folge davon war, daß er
fehlerhafte Ausdrücke als künstlerische Nuancen, Irrtümer als schlagfertige
Einfälle und Schweigen als würdevolle Zurückhaltung ansah. -
Pitigrilli, Mutterauge. In: P., Luxusweibchen. Reinbek bei
Hamburg 1988 (rororo 12201, zuerst 1922)
Güte (4) Der Mensch ist von Natur aus ›gut‹, ist er doch vergeßlich, träge, leichtgläubig, oberflächlich. Diese Worte bezeichnen alle die Leichtigkeit, mit der unsere ›Seele‹ ihre Eindrücke und selbst ihre Kräfte fahren läßt.
Ein Glück, diese Leichtigkeit. Welch scheußliche Brut wäre eine Menschheit
mit unfehlbarem Gedächtnis, stets vorandrängender Tätigkeit, ständiger Geistesgegenwart
und immer wachem, kritischem Sinn. - (
pval
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