roßstadt   Johnson hing sehr an London; er war der Ansicht, man finde dort mehr geistige Anregung als sonstwo. Für das leibliche Wohl könne überall gesorgt werden, nicht aber für den Geist, der fern der Stadt darben müsse und mangels an Gelegenheit, sich mit andern zu messen, zu verkümmern drohe. Nirgends, meinte Johnson, werde einem Dünkel und Anmaßung so gründlich ausgetrieben wie in London, weil kein Mensch an sich gut oder bedeutend sei, sondern erst im Vergleich mit andern, die weniger gut oder bedeutend sind, und man damit rechnen könne, in der Großstadt viele anzutreffen, die einem gewachsen, und etliche, die einem überlegen sind. Johnson behauptete auch, man laufe in London weniger Gefahr, sich voreilig zu verlieben.  - (johns)

Großstadt (2)

Der Himmel blinkt wie Blut so rot,
die Dirne tritt den Straßenkot.
Sie ist das abendlich gewohnt -
o Gott, wie seltsam hängt der Mond!

Die Seele siech, mit kranker Brust,
fast jedem gibt sie sich zur Lust,
von schnödem Sold kaum karg belohnt -
o Gott, wie seltsam hängt der Mond!

Er weiß, er weiß es, sie bereuts!
Ins Bett blickt ihr ein Christuskreuz!
Zu oft hat sie vor ihm gefront -
o Gott, wie seltsam hängt der Mond!


- Arno Holz , aus »Blechschmiede«

Großstadt (3)  Die großen Verkehrs-Adern sind alle häßlich und planlos, viele sogar erbärmlich unsauber. Es ist etwas Seelenloses, etwas zermalmend Materialistisches in dieser einförmigen meist abstoßend häßlichen Häuserwüste von schmalen zwei- und dreistockigen Gebäuden, die mit riesigen Waren-Magazinen abwechseln. - Eine Wüste, die die Hand der Natur geschaffen hat, können wir noch schön finden, denn es ist etwas wie Seele in ihr. Eine Wüste aber von Menschenhand, nach strengsten armseligen Geschäfts-Grundsätzen hergestellt, ist gräßlich; - ihr fehlt jede Spur einer Seele: sie erinnert an die Leiche eines Idioten. - Gustav F. Steffen, Aus dem modernen England. 1895

Großstadt (4)  Ich stecke voll bis an den Hals hinauf mit Gesichten - und diese Arbeit bedeutet mir alleinige Emotionen, federnde Erregung, sausende Straßenfront auf Papier! oder hui? kreist der Sternenhimmel übern roten Kopf, die Elektrische platzt ins Bild, es klingeln die Telefons, Gebärende schreit auf, indes Schlagring und Solingmesser friedlich in der schwülen Zuhälterhose schlummern - ach und die Labyrinthe der Spiegel, ihr Straßenzaubergärten! wo Circe die Menschen in Säue abwandelt ... - und die portweinroten, nierenzerfressenden Nächte, in denen der Mond ist neben Infektion und schimpfendem Droschkenkutscher, und wo im staubigen Kohlenkeller der Würgemord passiert - oh Emotionen der großen Städte! ... Zugreifen! Peer! Zugreifen! Hinein in den Schutt!!! schwitzend arbeiten zu können! tief wie in heißen Bergwerks, unwhistlerisch - hart und energievollst das Papier zerfasern, Linien darüber hinzaunen - Weite in sich zu haben - vor allem Peer, Streben! Elastizität, hochschnellen können!!!! Biceps, Triceps und Deltamuskeln - ruhig vorher am Stahlstrecker arbeiten! (am Chest-Expander dehnen!!!). -  George Grosz, Brief an Otto Schmalhausen vom 30. Juni 1917, nach:  Peter-Klaus Schuster u.a., George Grosz Berlin New York. Ausstellungskatalog Berlin 1994

Großstadt (5)  Also hören Sie sich mal an, was der kleine Johnny Maguire sich mit Hilfe der Menschen, die in seinem Fahrstuhl fahren, draußen für eine Stadt vorstellt. Als erstes stelle ich mir vor, daß die Temperatur im Sommer ungefähr fünfzig Grad im Schatten und im Winter fünfzig Grad in der Sonne beträgt. Irgendetwas muß ja an der Vorliebe der Damen für Chiffon und Spitze schuld sein. Dann müssen die Häuser erheblich an Höhe gewonnen haben, denn die Damen halten, während sie gehen, als quäle sie etwas, alle die Nase himmelwärts, als beobachteten sie Backsteine, die sich in die Wolken emporschwingen, und dann denke ich mir, da muß es irgendwo ein wahres Ungeheuer von einem Kerl geben, einen mit Schwanz und Hörnern, der eine gemeine Peitsche schwingt, denn sie eilen so hurtig in ihren roten Stiefelchen und ihren schwarzen und hellbraunen Pumps und auf ihren ewigen hohen Hacken dahin, und so würde ich auch meinen, daß die Stadt sehr prächtig ist und Männer sie erbaut haben, weil die immer so aufgeblasen und eingebildet sind und so gewaltige Gesten machen und so laut sprechen. Zusammenfassend würde ich sagen, daß das wohl schon eine beachtliche Stadt ist, doch daß die Menschen sich Sachen ausdenken, die, wenn sie aufhören, Träume zu sein, manchmal Alpträume werden. Denn statt Ruhe auszustrahlen und das stolze Gefühl, etwas geschaffen zu haben, rennen die Menschen dem unablässig hinterher, und der lange Schatten des höchsten Wolkenkratzers zeigt mit dem Finger auf sie und sagt: Denkt ihr nicht ein bißchen zuviel an eure Mauern und ein bißchen zu wenig an eure Gärten?  - Djuna Barnes, New York. Berlin 1987 (zuerst 1913)

Großstadt (6)  Hier ist die Hölle für Einsiedler-Gedanken: hier werden große Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht.

Hier verwesen alle großen Gefühle: hier dürfen nur klapperdürre Gefühlchen klappern!

Riechst du nicht schon die Schlachthäuser und Garküchen des Geistes? Dampft nicht diese Stadt vom Dunst geschlachteten Geistes?

Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe schmutzige Lumpen? - Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen!

Hörst du nicht, wie der Geist hier zum Wortspiel wurde? Widriges Wort-Spülicht bricht er heraus! — Und sie machen noch Zeitungen aus diesem Wort-Spülicht.

Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen einander und wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Bleche, sie klingeln mit ihrem Golde.

Sie sind kalt und suchen sich Wärme bei gebrannten Wassern: sie sind erhitzt und suchen Kühle bei gefrorenen Geistern; sie sind alle siech und süchtig an öffentlichen Meinungen.

Alle Lüste und Laster sind hier zu Hause; aber es gibt hier auch Tugendhafte, es gibt viel anstellige angestellte Tugend: -

Viel anstellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und Wartefleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopften steißlosen Töchtern. ....

O Zarathustra! Speie auf diese Stadt der Krämer und kehre um!

Hier fließt alles Blut faulicht und lauicht und schau-micht durch alle Adern: speie auf die große Stadt, welche der große Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt!

Speie auf die Stadt der eingedrückten Seelen und schmalen Brüste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger —

- auf die Stadt der Aufdringlinge, der Unverschämten, der Schreib- und Schreihälse, der überheizten Ehrgeizigen: -

- wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düstere, Übermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt... - Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Stadt

 

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