roßmutter Vor
einigen Jahren starb meine Großmutter, die ich sehr liebte. Hauptsächlich mußte
sie sich um meine Erziehung kümmern, bis ich sechs war, weil meine Mutter mit
ihrer Arbeit beschäftigt war. Zwischen mir und meiner Großmutter gab es keine
oder nur geringe Ähnlichkeit, obgleich ich natürlich
einen Teil meiner Knochen und meines Blutes von ihr habe, und unsere Hände waren
etwas ähnlich. Neulich nun warf ich zufällig einen Blick auf einen abgenutzten
Schuh von mir, der die Form meines Fußes angenommen hatte, und da sah ich die
Form oder den Ausdruck des Fußes meiner Großmutter, wie er mir von ihren Hausschuhen
noch in Erinnerung war und von den schwarzen Pumps mit den flachen Absätzen,
die sie immer trug, wenn sie ausging. Mir fiel die Zeit ein, als ich siebzehn
war und meine Großmutter in Texas besuchte, zwischen High School und College,
als wir einmal zusammen ins Kino gingen und Ein Sommernachtstraum sahen.
Meine Großmutter litt im Alter an grauem Star (sie starb erst, als ich vierunddreißig
war), doch das hat sie nie daran gehindert, das Leben zu genießen oder sich
lebhaft für Bücher, Theater und Filme zu interessieren, für Stickerei und Stepparbeiten,
für den Garten und alles, was sie darin zog. Ich weiß noch, wie ich mich freute
an dem Abend, als wir im Taxi quer durch die Stadt fuhren, um in einem großen,
aber weit abgelegenen Filmpalast den Sommernachtstraum zu sehen, denn solche
Kost war für die städtischen Kinos in Fort Worth nicht zugkräftig genug. Ich
weiß noch, wie fest meine Großmutter meinen Arm nahm, als wir zu unseren Plätzen
gingen, und wie sie mit den Füßen vorfühlte, obgleich ich sie stets warnte,
wenn eine Stufe kam. Wir kamen immer gut durch, auch wenn sich meine Großmutter
meist schon auf das konzentrierte, was auf der Leinwand lief, egal ob es die
Wochenschau oder ein Trickfilm war. Ich dachte an dem Abend: »Mendelssohn war
nicht älter als ich heute, als er die Ouvertüre schrieb. Was für ein Genie!«
Und mein Herz war ganz erfüllt von guten Gedanken an jenem Abend. Als ich dann
zwanzig Jahre später meinen alten Schuh sah, da vergoß ich die ersten echten
Tränen um meine Großmutter. Zum erstenmal wurde mir klar, daß sie tot war, daß
sie ein langes Leben gehabt hatte und nun nicht mehr da war. Und dabei wurde
mir klar, daß auch ich einmal sterben würde. - Patricia Highsmith, Suspense
oder Wie man einen Thriller schreibt. Zürich 1990 (zuerst 1966)
Großmutter (2) Wir sahen, daß der Teufel
eine Mutter hat; viele behaupten, er habe eigentlich nur eine Großmutter.
Auch diese kommt zuweilen zur Oberwelt, und auf sie bezieht sich vielleicht
das Sprüchwort: wo der Teufel selbst nichts ausrichten kann, da schickt er ein
altes Weib. Gewöhnlich aber ist sie in der Hölle mit
der Küche beschäftigt, oder sitzt in ihrem roten Lehnsessel, und wenn der Teufel
des Abends, müde von den Tagesgeschäften, nach Hause kommt, frißt er in schlingender
Hast was ihm die Mutter gekocht hat, und dann legt er seinen Kopf in ihren Schoß
und läßt sich von ihr lausen und schläft ein. - Heinrich Heine, Elementargeister (1837)
Großmutter (3) Eine plötzliche Zärtlichkeit verführte
mich dazu, es zu sagen: unbebrilltes Großmütterchen. Es fällt mir schwer, diese
höchst zurückhaltende unter meinen Vorfahren nicht zu lieben, diese Manganelli
der großen Jura-Ozeane, die nichts ahnte von Knäueln
und Brillen, von katholischen
Zeremonien, die weder treu noch ehebrecherisch war, geduldig gegenüber dem eigenen,
doch recht glanzlosen und undankbaren Los, denn es mußte ihr, die doch vor den
Offenbarungen der großen Religionen zur Welt kam, der
Sinn der großen Mühe recht nebelhaft bleiben; aber sie war immer arbeitsam,
nüchtern, mit Wenigem zufrieden, geboren, geschwängert, gestorben, behindert
in ihren ersten inneren Monologen durch breitlippige Verben, durch Pronomen
von vernebelter Ausdehnung, durch gräßlich schlechtfunktionierenden Kalenderdienst.
Sie hatte lediglich eine höchst ratlose Vorstellung von den Enkeln und plante
keinerlei indirekte Erlösung durch sie; sie brüstete
sich nicht bei der gallertenen Anliegergroßmutter mit diesen gebildeten und
zweigeschlechtlichen Blutsverwandten; vielmehr widmete
sie sich ihren unvollkommenen Pflichten und, nachdem sie in Ehren verschieden,
zersetzte sie sich mit vornehmer Unverzüglichkeit in jenen nimmerruhigen, vom
soeben eingehauchten Himmelsflatus kollernden Meeren,
die für alle unbequem waren außer für jene kurzsichtigen, hartnäckigen Großmütterchen
... Dies gilt es jetzt festzuhalten: Das Amöbengroßmütterchen kaute jenes erste
Kleinkindpünktchen, das winzige Perlchen, den ersten Splitter des harten, unverdaubaren
Nichts. Und unser heutiges Lamento, Geschwafel und Gefluche
geschehe auch zu Ehren der Erzmutter, die sich, fttt! ins Nichts
löste. - (
man
)
Großmutter (4)
Die letzten Worte meiner englischen Großmutter Ein paar schmutzige Teller runzlig und beinah blind gebt mir was zu essen, Gebt mir was zu essen! kannst tun was du willst. au! schrie sie, au, angenehme Pflege, was? aber ich kann euch sagen, kamen wir durch eine lange Ulmen- ist das für ein flaumiges Zeug |
- William Carlos Williams, nach (
mus
)
Großmutter (5) Meine Großmutter stammte aus Aberdeen; aber ihre Nase, ihre Kinnlade, ihre wie poliert wirkende bräunliche Haut und die klirrenden Goldohrringe verliehen ihr das Aussehen einer wahrsagenden Zigeunerin. Sie war, sollte ich noch dazufügen, fasziniert von Zigeunern. Sie war eine Spielerin, die vor nichts zurückschreckte und in Ermangelung anderer Einkünfte sich einen ganz netten Lebensunterhalt durch Pferdewetten verdiente. Sie sagte immer, Katholiken seien Heiden, und hatte Haare auf den Zähnen. An einem regnerischen Tag im Jahr 1944 hatten wir Zuflucht in einer Telephonzelle gesucht, als eine häßliche alte Frau die Nase an die Scheibe preßte.
»Diese Frau«, sagte meine Großmutter, »hat ein Gesicht wie ein Bullenhintern,
aber keinen Schwanz, um es zu verstecken.« - Bruce Chatwin, Der Traum des Ruhelosen. Frankfurt
am Main 1998 (Fischer-Tb. 13729, zuerst 1996)
Großmutter (6) Ich mußte an die vielen Männer denken, die sie vor mir gehabt hatte. Sie schien meine Gedanken zu erraten, denn sie sagte: »Du hast sie alle ausgelöscht. Von jetzt an bist du mein ganzes Leben.« Wir tranken Tee, und Gina sprudelte nur so vor Geschichten. Während des Krieges hatte sie Typhus gehabt und war in ein Hospital gebracht worden, wo die Ärzte versucht hatten, sie zu vergiften. Sie wäre heute nicht mehr am Leben, wenn ihre verstorbene Großmutter ihr nicht im Traum erschienen wäre und ihr verboten hätte, die Medizin zu nehmen. Diese gleiche Großmutter hatte sie schon mehrere Male vom Tode errettet. Einmal lag sie ganz allein im Haus, krank mit Influenza und ohne jede Nahrung — das war nach ihrer zweiten Scheidung - als ihre Großmutter ihr ein Glas warme Milch brachte.
Gina stand auf und legte einen feierlichen Schwur ab, daß sie die Wahrheit
spreche. Das Glas auf ihrem Nachttisch war leer gewesen. Plötzlich hatte es
sich mit Milch gefüllt, und sie hatte die Stimme ihrer Großmutter gehört: »Trinke!«
Sobald sie die Milch getrunken hatte, ließ das Fieber nach, und sie erholte
sich. -
Isaac Bashevis Singer: Gina Halbstark und die Seelenwanderung, nach: Tintenfaß
7, Zürich 1983
Großmutter (7) Ich bin die Großmutter
von dem jungen Mönch. Ich kanns gar nicht glauben, daß mein Bub im Kloster ist,
der Jakob. Aber er hat es schon immer schwer gehabt, er ist Immer lieber allein
gegangen, mir gehts auch so. Wie mir mein Bub, der Herbert, mit 8 Jahr an Difterie
erstickt is, hätt ich mich von der Steinern Brück in die Donau gstürzt, wenn
mich der Rull net zrückghaltn hätt. Wie ich 7 Jahr nach seim Tod wieder nach
Regensburg komm, hams grad sein Grab ausghobn, Hemdfetzn sand umherglegn, d'
Hirnschal mit an Büschl Haar. Frau, hat der Totngräber gsagt, machens kei Dummheit,
daß Sie nunterspringen und was mitnehmen, das war Friedhofsschändung. Neulich
hat mir in der Stadt eine von Grafling erzählt, daß sie dort den Friedhof umbaggert
ham, damit de Kinder an Spielplatz kriegn, de Totenköpf sand de Böschung nunter-grollt
und die Kinder ham mit eahna Fußball gespielt, des is dann koa Schändung! Hh
einatmend ha ausatmend ja zwei Bubn hab ich verlorn. - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am
Main 1972
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