Große Medizin   Mit großem Ernst sang er langsam einen Vers der Marseillaise, während er sich gleichzeitig langsam und gründlich den Hals einrieb. Plötzlich wurde die Komödie durch einen lauten Schrei unterbrochen. Der riesige Kosak hatte sich mit dem letzten Flammen seiner nicht zu brechenden Lebenskraft auf die Knie erhoben. Lachen und lautes Rufen von Überraschung und Lustigkeit ertönten von den Nulatos, als der große Iwan sich in heftigen Krämpfen im Schnee wälzte. Subienkow wurde bei dem Anblick ganz elend zumute, aber er bezwang sein Entsetzen und tat, als wäre er zornig.

«Das kann ich mir nicht gefallen lassen», sagte er. «Tut ihn zuerst ab - dann können wir die Probe anstellen. Yakaga, sorge dafür, daß er still wird.» Wahrend das getan wurde, wandte Subienkow sich zu Makamuk.

«Vergiß nicht, tüchtig zuzuschlagen. Es ist kein Kinderspiel. Hier, nimm die Axt und haue sie in den Holzstamm. daß ich dich wie einen Mann schlagen sehen kann.»

Makamuk gehorchte und hieb zweimal die Axt in den Baumstamm, sicher und mit solcher Kraft, daß ein großer Span abflog.

«Es ist gut!» Subienkow sah sich in dem Kreis wilder Gesichter um, die wie ein Symbol der Mauer von Gemeinheit und Roheit waren, welche ihn umgeben, seit die Polizei des Zaren ihn in Warschau verhaftet hatte. «Nimm die Axt, Makamuk, und sei bereit. Jetzt lege ich mich hm. Wenn ich die Hand hebe, schlage zu, und schlag aus aller Kraft. Achte gut darauf, daß niemand hinter dir steht. Die Medizin ist groß, und es kann sein, daß die Axt von meinem Hals zurück und dir aus den Händen springt.»

Er betrachtete die beiden Schlitten mit den vorgespannten Hunden und ihrer schweren Last von Fellen und Fischen. Seine Büchse lag auf dem Biberfell. Sechs Jäger, die ihm als Leibwache dienen sollten, standen neben den Schlitten. «Wo ist das Mädchen?» fragte der Pole. «Führe sie zu den Schlitten, ehe die Probe beginnt.» Als das geschehen war, legte Subienkow sich in den Schnee und ließ seinen Kopf auf dem Baumstamm ruhen, wie ein müdes Kind, das sich schlafen legt. Er hatte so viele schwere Jahre gelebt, daß er wirklich müde war.

«Ich lache über dich und deine Kraft, o Makamuk», spottete er. «Schlage, und schlage kräftig.» Er hob die Hand, Makamuk schwang die Axt, eine breite Axt zum Fällen von Baumstämmen. Der blanke Stahl funkelte in der frostklaren Luft, hob sich in einem kurzen Augenblick über dem Kopf Makamuks und fiel dann auf den entblößten Hals Subienkows. Durch Fleisch und Knochen ging die Schneide und ein gutes Stück in den Baumstamm hinein. Die verblüfften Wilden sahen den Kopf weit vom Körper fortspringen, aus dem ein Strahl von Blut hervorsprudelte.

Sie standen verwirrt und schweigend da, und allmählich ging ihnen auf, daß es gar keine so große Medizin gab. Der Pelzdieb hatte sie angeführt. Er war als einziger von all ihren Gefangenen der Folterung entgangen. Das war es gewesen, was er wollte. - Jack London, Das verlorene Gesicht. In: J. L., Die konzentrischen Tode. Stuttgart 1983  (Die Bibliothek von Babel, Bd. 14, Hg. Jorge Luis Borges)

Große Medizin (2) Als Jules, der Canadier, seine Rede von wegen Verärgerung unserer Großen Medizin (unsrer Kanone) beendet, und nachdem die dadurch hervorgebrachte Erregung unter den Wilden sich einigermaßen wieder gelegt hatte, begann der Dolmetscher aufs neue zu sprechen, und uns die 3 folgenden Fragen zu unterbreiten: erstens wollte er wissen, ob wir irgend Tabak, oder Whiskey, oder Feuerwaffen an Bord hätten? Zweitens: ob wir denn nicht die Hilfe der Sioux dabei wünschten, unser schwerfälliges Boot Missouriaufwärts bis ins Land der Ricarees zu rudern, die doch notorische Schufte wären? Und endlich drittens: ob es sich bei unserer Großen Medizin nicht bloß um einen sehr starken und übergroßen Grünen Grashüpfer handele?

Auf diese, mit gravitätischem Ernst vorgetragenen Fragen erwiderte Jules, meinen Anweisungen gemäß, wie folgt: erstens, daß wir Whiskeys die Fülle hätten und Tabak nicht minder, vor allem aber einen unerschöpflichen Vorrat an Feuerwaffen & Pulver ~ daß unsere Große Medizin uns jedoch soeben mitgeteilt hätte, wie die Tetons noch weit größere Schurken wären, als die Ricarees - daß sie unsere Feinde seien - daß sie seit so manchem Tage schon auf der Lauer gelegen hätten, um uns abzufangen & umzubringen - daß wir ihnen also auf keinen Fall das Geringste geben, ja schlechterdings überhaupt keinen Verkehr mit ihnen pflegen sollten -aufgrund all dessen wir Angst hätten, ihnen irgendetwas zu schenken, selbst falls wir dazu geneigt sein sollten, aus Furcht die Große Medizin zu erzürnen, mit der nicht zu spaßen sei. Zweitens, daß wir nach solcher soeben erhaltenen Information über die Gesinnung der Teton^Sioux, nicht daran denken könnten, sie unser Boot rudern zu lassen - und endlich, drittens, daß es ein rechtes Glück für sie (die Sioux) wäre, daß unsre Große Medizin ihre letzte freche Erkundigung à la ‹Großer Grüner Grashüpfer› nicht gehört hätte; da es ihnen (den Sioux) in diesem Falle höchstwahrscheinlich übel ergangen wäre. Unsere Große Medizin sei nämlich alles Andere als ein Großer Grüner Grashüpfer; und das sollten sie augenblicklich auf ihre Kosten, erfahren, wenn sie sich nicht, und zwar wie ein Mann, unverzüglich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwendeten.  - Edgar Allan Poe, Das Tagebuch des Julius Rodman. Nach (poe)

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