ott, junger   " 'ne Frau! Zu was? Um dir unglücklich zu machen? Kinder? Laß dich raten, Kumpel, und bekomm keine nich. Sieh mir an! Ich kann mein Bier trinken, wenn ich Lust hab, und kein verwünschtes Weib und Kinderchen schrein nach Brot. Ich bin glücklich mit meinem Bier und Kumpels wie du und 'nem guten Schiff und wieder 'ner Fahrt zur See. Und deswegen wolln wir noch 'ne Pinte trinken. Halb und Halb is gut genug für mir."

Ohne mich noch länger über die Rede dieses jungen Burschen von zweiundzwanzig auszulassen, habe ich, glaube ich, seine Lebensphilosophie und die ihr zugrunde liegende ökonomische Ursache hinreichend angedeutet. Häusliches Leben hatte er nie kennengelernt. Das Wort "Heim" erweckte in ihm nichts als unangenehme Assoziationen. In dem niedrigen Lohn seines Vaters und anderer Männer auf der gleichen Lebensbahn fand er einen ausreichenden Grund, Weib und Kinder als Belastungen und Ursachen männlichen Elends zu brandmarken. Ein unbewußter Hedonist, im höchsten Grade unmoralisch und materialistisch, erstrebte er das größtmögliche Glück für sich selbst und fand es im Trinken.

Ein junger Trunkenbold, ein frühzeitiges Wrack, physische Unfähigkeit, die Arbeit eines Heizers zu leisten, die Gosse oder das Armenhaus und das Ende - all das sah er so deutlich wie ich, aber es enthielt keine Schrecken für ihn. Von dem Augenblick seiner Geburt an hatten alle Kräfte seiner Umgebung dazu gedient, ihn zu verhärten, und er blickte auf seine erbärmliche, unvermeidliche Zukunft mit einer Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit, die ich nicht zu erschüttern vermochte.

Und doch war er kein schlechter Mensch. Er war nicht von Natur aus verderbt und roh. Er besaß eine normale geistige und eine überdurchschnittliche körperliche Beschaffenheit. Seine Augen waren blau und rund, von langen Wimpern überschattet, und standen weit auseinander. Und es lag ein Lachen in ihnen und dahinter ein Schatz an Humor. Die Stirn und die Züge im allgemeinen waren gut, Mund und Lippen ansprechend, wenngleich sich bereits eine abstoßende Verzerrung entwickelte. Das Kinn war weich, aber nicht zu weich, ich habe Männer mit einem weicheren in hohen Stellungen sitzen sehen.

Sein Kopf hatte Ebenmaß und ruhte in einem so schönen Gleichgewicht auf einem vollkommenen Hals, daß mich sein Körper, als er sich nachts zum Schlafengehen auszog, nicht überraschte. Ich hatte viele Männer sich entkleiden sehen, in Turnhallen und Trainingsstätten, Männer von guter Herkunft und Erziehung, aber nie habe ich einen einzigen gesehen, der sich zu größerem Vorteil entkleidete als dieser junge Trunkenbold von zweiundzwanzig, dieser junge Gott, der dazu verdammt war, in vier oder fünf kurzen Jahren zu verfallen und zugrunde zu gehen und die Erde ohne Nachkommenschaft zu verlassen, das herrliche Erbteil zu empfangen, das er zu vermachen hatte. - Jack London, Die Menschen des Abgrunds. Dortmund 1974 (zuerst 1903)

 

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