osse   So breit und schön die Straßen auch dem ersten Anblick nach sind, so weiß doch der Fußgänger zuweilen nicht, wie er sich für schnell fahrenden Wagen, für Koth und Gossen hüten soll. Der eigentliche Gang für Fußgänger sollte, so wie in allen übrigen polizierten Städten längs den Häusern hingehen, allein dieses hat man durch die hohen Auffarthen vor den Häusern fast unmöglich gemacht. Der Fußgänger wird alle Augenblick aufgehalten und ist gezwungen, über die Gossen weg auf den sogenannnten Damm zu schreiten. Nirgends ist diese Unbequemlichkeit sichtbarer als in der Leipziger Straße, einer der schönsten von ganz Berlin.  Außerdem sind vor den Häusern auch hohe steinerne Treppen angebracht. In der Mitten der Straßen oder auf dem Damme ist es bei schlechter Witterung außerordentlich kothig und im Steinpflaster selbst gibt es unzählige Löcher, welche theils von dem sandigen Boden, theils von der unverantwortlichen Nachlässigkeit der Steinsetzer und ihrer Aufpasser herrührt. Die übermäßig großen Steine, die zwischen eine Menge kleiner und spitzer Kieselsteine gelegt sind, verursachen, daß man alle Augenblick Gefahr läuft anzustoßen und zu Boden zu stürzen. Die Gossen sind zwar, wie es sich gehört, an beiden Seiten des Dammes angelegt, jedoch so, daß sie dem Fußgänger eine neue und gefährliche Fallbrücke werden. Ein Theil dieser tiefen Gossen ist nur eben vor den Hausthüren mit Brettern überlegt. Sobald man also des Abends längs der Häuser weggehet, stößt man alle zehn bis fünfzehn Schritte an eine steinerne Auffahtt, die noch wohl zu größerer Gefahr mit einer kleinen Rönne umgeben ist; gehet man auf den Brettern, womit die Gossen bedeckt sind, herzhaft fort, so stürzt man, ehe man es sich versiehet, mit einem Male drei bis vier Fuß tief in die Gosse hinunter; gehet man aber in der Mitte des Dammes, so weiß man bei der geschwinden Annäherung eines oder gar mehrerer Wagen nicht, wo man sich hinwenden soll, denn an den Gossen liegen hohe und schlammigte Dreckhaufen; über sie hinüberzuspringen, ist gefährlich, weil sie abschüssig und tief sind; dennoch muß man auf das gerathewohl einen Entschluß fassen, um nicht von den Wagen überfahren zu werden. Die eingebohrenen Berliner sind an diese Unbequemlichkeiten gewöhnt, kennen auch die Seitenwege besser als der Fremde, der dergleichen Fallbrücken garnicht vermuthet. Es steckt selbst etwas menschenfeindliches in einer solchen Anlage der Straßen, weil man dabei bloß auf die Reichen, die in Kutschen fahren, gedacht zu haben scheint. Man spreche ja nicht von der nächtlichen Erleuchtung, denn die ist bis hierher herzlich elend gewesen, ohnerachtet Laternen genug brennen. Letztere sind so beschaffen und gesetzt, daß sie nur eine Art von hellem Schatten verbreiten, der zu nichts hilft. - Schattenriß von Berlin, 1788. Nach (hes)

Gosse (2)  Eines Tages sehe ich einen grossen Auflauf auf der Strasse; es gelingt mir, über die Schultern der Gaffer zu sehen und ich erblicke dieses: Ein Mann lag rücklings auf der Erde, hielt die Augen offen und zum Himmel gerichtet; ein anderer stand vor ihm und sprach nur durch Gesten; der Mann auf der Erde antwortete ihm nur mit den Augen. Beider Gesicht strahlte ausserordendiches Wohlwollen aus. Die Gesten des stehenden Mannes sprachen zum Verstand des liegenden Mannes: »Komm, komm noch ein wenig! Das Glück ist da, zwei Schritte von hier, komm bis zur Strassenecke! Noch haben wir nicht das Ufer des Kummers ganz aus den Augen verloren. Wir schwimmen noch nicht ganz im Ozean des Traumes. Mut, lieber Freund! Befiehl deinen Beinen, deinen Gedanken zu gehorchen.« Das alles in harmonischem Schwanken und Taumeln. Der andere war zweifelsohne bereits im Ozean angelangt (übrigens schwamm er im Rinnstein); denn sein glückliches Lächeln antwortete: »Lass deinen Freund in Ruhe. Das Ufer des Kummers verschwand genugsam hinter wohltätigen Nebeln; ich habe vom Traumhimmel nichts mehr zu fordern.« Ich glaube sogar einen vagen Satz oder besser einen vagen, in Worte gekleideten Seufzer aus seinem Munde gehört zu haben: »Man muss vernünftig sein.« Das ist die Höhe der Göttlichkeit. Aber in der Trunkenheit gibt es Übergöttliches, wie ihr sehen werdet. Der Freund, voll Nachsicht noch immer, geht allein in die Kneipe und kommt mit einem Strick in der Hand zurück. Wahrscheinlich konnte er den Gedanken nicht ertragen, allein zu segeln und allein dem Glück nachzulaufen; deshalb kam er, um seinen Freund im Wagen abzuholen. Der Wagen war der Strick; er schlingt ihm den Wagen um die Rippen. Der ausgestreckte Freund lächelt. Er hat gewiss diesen mütterlichen Gedanken verstanden. Der andere knüpft einen Knoten; dann schreitet er aus wie ein sanftes und vorsichtiges Pferd und karrt seinen Freund bis zum Stelldichein des Glücks. Der gekarrte oder besser geschleifte Mann, der das Pflaster mit seinem Rücken polierte, lächelte weiter sein unsagbares Lächeln. - Baudelaire

Gosse (3)

- N.N.

 

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