Golgathaspinnen  Als die Ambulanzfahrzeuge auftauchten, habe ich geschrien, in der Hoffnung, aufgesammelt zu werden. Verlorene Liebesmüh! Schließlich gelang es mir, einzunicken, den Kopf auf meinem Rucksack, nachdem ich die Kraft gefunden hatte, ihn aufzuschnüren und meine Decke über meine armen reglosen Beine auszubreiten.

Ich weiß nicht, wie lange mein Schlaf dauerte. Aber es schien, als beginne nun die Zeit des Leidens.

Die deutsche Prozession war beendet. Um mich herum die Stille einer klaren Nacht, erleuchtet von vierzig Milliarden Sternen. In der Tiefe des Horizonts eine Linie bleicher Lichter, die die Anwesenheit eines deutschen Corps signalisierte, das dort kampierte - denn die französische Armee musste weiter weg sein.

Die ersten beiden Empfindungen beim Erwachen waren Kälte und Durst, beide derart stark, dass ich einen Klagelaut ausstieß.

Sofort antworteten darauf in der Dunkelheit einige schwache Stimmen, undeutlich wie die meinige. Dann sah ich hier und da, ganz in meiner Nähe, einige schwarze Flecken auf dem Boden und, als ich genauer hinschaute, nahm ich weiter entfernt und außer Sichtweite noch andere wahr. Es waren Sterbende und Tote. Und dann, als hätte ich das Klagesignal gegeben, erreichten mich aus der ganzen Ebene Geröchel, Geschluchze und Seufzer ...

Wir waren vielleicht zweitausend, die darauf warteten, behandelt oder beerdigt zu werden. Eine maßlose Verzweiflung bemächtigte sich meiner.

Monsieur, ich denke, man muss da hindurchgegangen sein, um es zu wagen, vom Elend der Welt zu sprechen. Und das war übrigens erst der Anfang, wie Sie gleich sehen werden.

Das Geflüster verstummte. Jeder Sterbende hatte in diesen schmerzvollen Ruf zweifelsohne seine höchste Anstrengung hineingelegt. Dreiviertel von ihnen erlöschten, und dann war sie wieder da, die große polare Stille.

Was aber sind das für aufrechte Schatten da hinten am Waldrand, unruhige Schemen, die sich geräuschlos bewegen? Wie viele dunkle Figuren, deren Flüstern ich höre, sind es, die sich da hinten zueinander beugen?

Das Dickicht spuckt noch mehr aus, ich sehe sie zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Eben noch waren es zehn, jetzt sind es dreißig oder vierzig.

Diese Wesen versammeln sich um die Liegenden, reißen die Rucksäcke auf, filzen die Taschen, erwürgen oder erdolchen diejenigen, die sie anflehen. Schreckliche Schreie erheben sich, die diese Wüste sicherlich nicht durchmessen werden.

Gerechter Himmel! O gnadenreicher Gott! Haben diese bedauernswerten Soldaten den ganzen Tag ihr Blut vergossen, nur um die lebende Beute jener Golgathaspinnen zu werden?

Eine Frau nähert sich mir. Ich ahne schon, dass sie, wenn das überhaupt möglich ist, noch schrecklicher ist als ihre Genossen. Unfähig, mich zu verteidigen, starr vor Schreck und meine Seele dem Unsichtbaren anempfehlend, schließe ich meine Augen ...

Plötzlich brechen Gewehrschüsse und Wutschreie los. Ein deutscher Trupp springt aus dem Wald heraus und schießt auf die Marodeure.

Das schreckliche Weibsbild gluckst zu meinen Füßen ihren letzten Seufzer.

Ich richte mich auf und sehe jetzt im Lichtschein einer Laterne, wie sich die düstere Herde, der die Deutschen auf den Fersen ist, verflüchtigt.

>Hier sind die meistern, sagt eine Stimme.

Ich dachte, es ginge um die Fliehenden. Er meinte aber ganz einfach die Toten, das heißt unterschiedslos mich und die anderen, die der Laternenträger, der herbeigerufen wurde, so anständig wie möglich zu beerdigen hatte. Es war ein Bauer, begleitet von seiner Frau, beide bewaffnet mit Hacke und Spaten.

Sofort machten sie sich daran, einen breiten Graben auszuheben. Wenn Sie es können, dann glauben Sie mir, dass ich von den beiden Individuen kein tröstendes Sterbenswörtchen zu hören bekam. Sie waren weder stumm noch taub, auch keine Fremden, denn ich horte sie miteinander Französisch sprechen.

Sie hatten ganz einfach nur beschlossen, mir nicht zu antworten, wie Handwerker, die für einen wichtigen Auftraggeber arbeiten, und sie verweigerten mir das Recht, nicht tot zu sein. - Léon Bloy, Blutschweiß. Berlin 2011 (zuerst 1893)

Spinne

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