lückwunsch De
Chiricos neunzigster Geburtstag. Vor mir liegt ein Porträt von ihm, eine
Bleistiftzeichnung von Bruno Caruso. Es ist ein echtes Porträt und nicht, wie
man heute zur Rechtfertigung der Unähnlichkeit zu sagen pflegt, eine Interpretation.
Tatsächlich ist ja schon die ähnliche, das heißt die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe
der Physiognomie eine Interpretation, und zwar die glaubhafteste. Wenn darin
außerdem noch die physiognomische Wahrheit in ihrer
ganzen Ausdruckskraft, das heißt in dem Augenblick festgehalten ist, in dem
der Porträtierte sich selbst verrät, indem sein Blick und der Zug um seinen
Mund über ihn das sagen, was wir über sein Leben, seine Taten, seine Gedanken
und seine Werke schon wußten, dann wird das Porträt dadurch noch ähnlicher beziehungsweise
die Interpretation noch glaubhafter. Und genau das ist bei Carusos Zeichnung
der Fall. Aus diesem Porträt tritt De Chirico mir
so entgegen, wie er wirklich ist: distanziert, ironisch, verächtlich und zugleich
wachsam und vorsichtig, aufmerksam, neugierig. Vielleicht könnte man über ihn
sagen, was Chesterton über Jane Austen sagte: »Sie brachte sich vor den
Dingen des Lebens in Sicherheit, aber wenige Dinge des Lebens waren vor ihr
sicher.« So hat De Chirico neunzig an historischen Umwälzungen und kollektiven
Tragödien überreiche Jahre miterlebt und sich vor allem sorgfältig in Sicherheit
gebracht; doch ebenso sorgfältig hat er es registriert, als wachsamer und klarsichtiger
Beobachter.So zu leben wissen, ist ein Geheimnis, ein Geheimnis, das nur wenigen gegeben
ist. Und ich fühle das Bedürfnis, ihm vom anderen Ufer her einen Gruß und einen
Glückwunsch zu senden. - Leonardo Sciascia,
Schwarz auf schwarz. München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)
Glückwunsch (2)