Glaskasten (2) Oliveira hatte
angefangen, das Treiben um sich herum zu betrachten, das wie an jeder
beliebigen Straßenecke in jeder beliebigen Stadt die vollkommene
Illustration dessen war, was er gerade dachte, und ihm beinah die Arbeit
ersparte. Im Café, vor der Kälte geschützt (man hätte hineingehen und
ein Glas Wein trinken sollen), schwatzte an der Theke eine Gruppe von
Maurern mit dem Wirt. Zwei Studenten lasen und schrieben an einem Tisch,
und Oliveira sah, wie sie aufblickten und zu den Maurern schauten, er
sah, wie sie sich wieder ihrem Buch oder Heft zuwandten, von neuem
aufschauten. Von einem Glaskasten zum anderen sich anschauen, sich
isolieren, sich anschauen: das war alles. Über der geschlossenen
Terrasse des Cafes schien am Fenster des ersten Stocks eine Frau zu
nähen oder ein Kleid zuzuschneiden. Ihre hohe Frisur bewegte sich im
Takt. Oliveira stellte sich ihre Gedanken vor, die Schere, die Kinder,
die jeden Augenblick aus der Schule kämen, den Mann, der seinen
Arbeitstag in einem Büro oder einer Bank beendete. Die Maurer, die
Studenten, die Frau, und jetzt tauchte aus einer Seitenstraße ein
Clochard auf, mit einer Flasche Rotwein, die ihm aus der Jackentasche
sah, und einen Kinderwagen schiebend, der vollgestopft war mit alten
Zeitungen, Büchsen, abgetragenen und zerschlissenen Kleidungsstücken,
einer Puppe ohne Kopf, einem Paket, aus dem ein Fischschwanz
herausragte. Die Maurer, die Studenten, die Frau, der Clochard, und in
einem Kiosk, wie zum Pranger verurteilt, LOTERIE NATIONALE, eine alte
Frau, die widerspenstigen Haarsträhnen unter einer grauen Ohrenmütze
hervorquellend, die Hände in blauen Pulswärmern, TIRAGE MERCREDI, ohne
zu warten, wartete sie auf einen Kunden, ein Kohlebecken zu ihren Füßen,
eingeklemmt in ihrem aufrecht stehenden Sarg, regungslos, halb
erfroren, das Glück anpreisend und an wer weiß was denkend, kleine
Gedankenfetzen, senile Wiederholungen, die Lehrerin aus der Kindheit,
die ihr Süßigkeiten schenkte, der an der Somme gefallene Mann, der Sohn,
der Handlungsreisender war, nachts die Dachkammer ohne fließendes
Wasser, die Suppe für drei Tage, das bceuf hourgignon, das weniger als
ein Beefsteak kostet, TIRAGE MERCREDI. Die Maurer, die Studenten, der
Clochard, die Losverkäuferin, jede Gruppe, jeder einzelne in seinem
Glaskasten, aber kaum daß ein alter Mann unter ein Auto geriete, begänne
auch schon das allgemeine Wettrennen zum Unfallort, der heftige
Austausch von Eindrücken, Kritik, Meinungsverschiedenheiten und gleichen
Ansichten, bis es erneut zu regnen anfinge und die Maurer an ihre Theke
und die Studenten an ihren Tisch zurückkehrten, die X zu den X, die Z
zu den Z. - (ray)
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