iraffe



Hat man den Menschen aus der Nähe gesehen,
ist man
stolz darauf, Giraffe zu sein

- (grand)

Giraffe (2)  Diese Giraffe von natürlicher Größe ist ein einfaches in Form einer Giraffe ausgeschnittenes Brett, das eine Besonderheit aufweist, durch die sie sich von den übrigen Holztieren unterscheidet: Jeder Flecken ihrer Haut, die auf drei oder vier Meter Entfernung gesehen nichts Ungewöhnliches aufweist, besteht in Wirklichkeit aus einem Deckel, den jeder Betrachter leicht öffnen kann, indem er an einem unsichtbar seitlich angebrachten Scharnier dreht, oder ist ein Gegenstand oder eine Öffnung, durch die das Tageslicht tritt - die Giraffe hat nur einige Zentimeter Dicke -, oder ist eine Vertiefung, welche verschiedene Gegenstände enthält, die in der folgenden Liste aufgeführt werden.

Anzumerken ist noch, daß diese Giraffe nur einen vernünftigen Sinn ergibt, wenn sie ganz und gar vervollständigt wird, das heißt, wenn jeder dieser Flecken die Funktion erfüllt, für die er bestimmt war. Auch wenn diese Vervollkommnung sehr kostspielig ist, so ist sie doch deshalb nicht weniger möglich.

ALLES IST ABSOLUT REALISIERBAR

Um die Gegenstände zu verstecken, die sich hinter dem Tier befinden sollen, muß es vor einer schwarzen Wand von zehn Metern Höhe und vierzig Metern Länge aufgestellt werden. Die Oberfläche der Wand muß intakt sein. Vor dieser Wand sollte ein Beet mit Asphodillfarnen angelegt werden, deren Ausmaße mit denen der Wand übereinstimmen müssen.

WAS SICH IN JEDEM FLECKEN DER GIRAFFE BEFINDEN SOLL

In dem ersten: Das Innere des Fleckens besteht aus einem kleinen, ziemlich komplizierten Mechanismus, sehr ähnlich dem einer Uhr. In der Mitte der Bewegung der Zahnräder dreht sich schwindelerregend ein kleiner Propeller. Ein schwacher Leichengeruch entweicht dem Ganzen. Nachdem man von dem Fleck zurückgetreten ist, nehme man ein Album, das sich zu Füßen der Giraffe auf dem Boden befinden soll. Man nehme Platz in der Ecke der Farngruppe und blättere das Album durch, welches dutzendweise Fotografien von sehr elenden und sehr kleinen verlassenen Plätzen zeigt. Es sind die alten kastilischen Städte: Alba de Tormes, Soria, Madrigal de las Altas Torres, Orgaz, Burgo de Osma, Tordesillas, Simancas, Sigüenza, Cadalso de los Vidrios und vor allem Toledo.

In dem zweiten: Unter der Bedingung, ihn, wie die außen angebrachte Aufschrift vorschreibt, mittags zu öffnen, erscheint ein Kuhauge in seiner Höhle, mit den dazugehörigen Wimpern und dem Augenlid. Das Bild des Betrachters spiegelt sich in dem Auge. Das Lid sollte unvermittelt herunterklappen und die Betrachtung beenden.

In dem dritten: Sobald man diesen Fleck öffnet, sind auf samtrotem Hintergrund diese beiden Worte zu lesen:

AMERICO CASTRO

Da sich diese Buchstaben abnehmen lassen, kann man damit alle möglichen Kombinationen anstellen.

In dem vierten: Gibt es ein kleines Gitter, wie das einer Zelle. Durch die Stäbe hört man eine echtes Orchester von hundert Musikern, welche die Ouvertüre zu den »Meistersingern« spielen.

In dem fünften: Zwei Billardkugeln fallen mit großem Getöse aus der Öffnung des Flecks. Drinnen, an einem Seil hängend, ein zusammengerolltes Pergament. Man muß es aufrollen, um dieses Gedicht lesen zu können:

FÜR RICHARD LÖWENHERZ

Vom Chor zur Orgelpfeife, von der Orgelpfeife zum Hügel, vom Hügel zur Hölle, zur schwarzen Messe der Winteragonien. Vom Herz zum Geschlecht der Wölfin, die in den zeitlosen Wald des Mittelalters floh.

Verba vedata sunt fodido im Arsch et puto gafo, war das Tabu der ersten Hütte in dem unendlichen Wald, war das Tabu des Stuhlgangs der Ziege, aus der die Massen hervorgingen, welche die Kathedralen errichteten.

Die Blasphemien trieben auf den Sümpfen, der Pöbel zitterte unter der Peitsche der Bischöfe aus verstümmeltem Marmor, die weiblichen Geschlechtsteile wurden benutzt, um Frösche zu entleeren.

Mit der Zeit grünten die frommen Frauen wieder, aus ihren vertrockneten Schenkeln wuchsen grüne Zweige, die Inkuben blinzelten ihnen zu, während die Soldaten an die Wände des Klosters pißten und die Jahrhunderte in den schwärenden Wunden der Leprakranken brodelten.

Aus den Fenstern hingen Scharen vertrockneter Novizinnen, die mit Hilfe eines lauen Frühlingswindes ein sanftes Betgemurmel hervorbrachten.

...Ich werde meine Zeche bezahlen müssen, Richard Löwenherz, fodido im Arsch et puto gafo.

In dem sechsten: Der Fleck durchquert die Giraffe von einer Seite zur anderen. Also betrachtet man die Landschaft durch die Öffnung. Ungefähr zehn Meter entfernt kniet meine Mutter - Senora Bunuel -als Wäscherin gekleidet vor einem Bach und wäscht Wäsche. Hinter ihr einige Kühe.

In dem siebenten: Ein einfaches altes Stück Sackleinen, mit Gips beschmiert.

In dem achten: Dieser Fleck ist mäßig konkav und mit sehr feinen, lockigen, blonden Haaren bedeckt, von der Scham eines jungen dänischen Mädchens mit sehr hellblauen Augen, gut im Fleisch, mit sonnenverbrannter Haut, ganz Unschuld und Arglosigkeit. Der Betrachter soll sanft über die Haare blasen.

In dem neunten: Anstelle des Flecks entdeckt man einen großen dunklen Nachtfalter mit einem Totenkopf zwischen den Flügeln.

In dem zehnten: Im Innern des Flecks eine beachtliche Menge Brotteig. Man bekommt Lust, ihn mit den Fingern zu kneten. Bestens versteckte Rasiermesserklingen werden die Hände des Betrachters mit Blut färben.

Im elften: Eine Membrane aus Schweinsblase ersetzt den Fleck. Nur das. Die Giraffe nehmen und sie nach Spanien bringen, um sie an einem ›Masada del Vicario‹ genannten Ort, sieben Kilometer von Calanda, im südlichen Aragon aufzustellen, den Kopf nach Norden gerichtet. Mit einem Faustschlag die Membrane zerteilen und durch die Öffnung schauen. Man wird ein sehr ärmliches, mit Kalk geweißtes Häuschen inmitten einer wüstenartigen Landschaft sehen. Davor, ein paar Meter von der Tür entfernt, ein Feigenbaum. Vielleicht kommt in diesem Augenblick ein alter Landarbeiter mit nackten Füßen aus dem Haus.

Im zwölften: Ein wunderschönes Foto vom Kopf Christus' mit der Dornenkrone, aber ER LACHT SCHALLEND.

Im dreizehnten: In der Tiefe des Flecks eine wunderschöne Rose, größer als in natura, aus Apfelschalen hergestellt. Die Staubblätter sind aus blutigem Fleisch. Diese Rose wird ein paar Stunden später schwarz werden und am nächsten Tag verfaulen. Drei Tage später werden ihre Reste von einer Legion Würmern aufgesucht.

Im vierzehnten: Ein schwarzes Loch. Man hört das folgende, in großer Angst geflüsterte Zwiegespräch:

FRAUENSTIMME: Nein, ich bitte dich. Gefriere nicht.
MÄNNERSTIMME: Doch, es muß sein. Ich könnte dir sonst nicht in die Augen sehen.
(Man hört das Geräusch des Regens).
FRAUENSTIMME: Trotz allem, ich liebe dich, ich werde dich immer lieben, aber gefriere nicht. GEFRIERE... NICHT. (Pause)
MÄNNERSTIMME: (sehr leise, sehr sanft)  Meine  kleine Leiche...
(Pause). (Man hört ein ersticktes Lachen.)
Jäh erscheint ein sehr helles Licht im Innern des Flecks. In diesem Licht sieht man einige Hühner nach Würmern picken.

Im fünfzehnten: Ein kleines Fenster mit zwei Flügeln, das perfekt ein großes imitiert. Plötzlich tritt eine dicke Wolke weißen Rauchs ein, wenige Sekunden später erfolgt eine ferne Explosion. (Rauch und Explosion sollen wie von einer Kanone sein, gesehen und gehört auf einige Kilometer Entfernung).

Im sechzehnten: Wenn man den Fleck öffnet, sieht man in zwei oder drei Metern Entfernung eine >Verkündigung< von Fra Angelico, sehr gut gerahmt und beleuchtet, aber in einem bedauernswerten Zustand, von Messerstichen zerstochen, mit Pech beschmiert, die Gestalt der Jungfrau sorgfältig mit Exkrementen beschmutzt, die Augen durch Nadelstiche zerstört; am Himmel liest man in ziemlich ordinären Buchstaben: NIEDER MIT DER MUTTER DES TÜRKEN!

Im siebzehnten: Ein sehr kräftiger Dampfstrahl wird dem Fleck in dem Moment entweichen, wenn dieser sich öffnet, und den Betrachter mit grausamer Blindheit schlagen.

Im achtzehnten: Das Öffnen des Flecks bewirkt das furchterregende Herunterfallen folgender Gegenstände: Nadeln, Faden, Fingerhut, Stoffetzen, zwei leere Streichholzschachteln, ein Kerzenrest, ein sehr altes Kartenspiel, ein paar Knöpfe, Riechsalzkörner, eine viereckige Uhr, eine Türklinke, eine kaputte Pfeife, zwei Briefe, orthopädische Apparate und ein paar lebendige Spinnen. Alles verstreut auf höchst beunruhigende Art und Weise. (Dieser Fleck ist der einzige, der den Tod symbolisiert.)

Im neunzehnten: Das weniger als einen Quadratmeter große Modell hinter dem Fleck stellt die Sahara unter sengender Sonne dar. Hunderttausend kleine Seminaristen aus Wachs, mit ihren weißen Lätzchen, die sich von der Soutane abheben, bedecken den Sand. Der Hitze wegen zerschmelzen die Seminaristen nach und nach. (Es wird gut sein, Millionen von Maristen auf  Vorrat zu haben.)

Im zwanzigsten: Man öffne diesen Fleck. Auf vier Brettern stehend, sieht man zwölf kleine Terrakottabüsten, welche Frau ... (1) darstellen. Wunderbar gut gemacht und ähnlich, trotz ihrer Größe von ungefähr zwei Zentimetern. Betrachtet man sie mit einer Lupe, kann man sehen, daß die Zähne aus Elfenbein sind. Der letzten kleinen Büste hat man alle Zähne ausgerissen.

(1) Ich kann ihren Namen nicht verraten. - (bun)

Giraffe (3)  Ich blieb vor dem Kaugummiautomaten stehen. Hinter dem rot eingerahmten Glas, schwindlig auf dem Kopf und zwischen Kugeln eingezwängt, eine Plastikgiraffe. Die Zeichnung wie von einem Geparden, der Kopf konturlos umgeknickt als verdickter Halsverschluss. Über Wochen schon hatte ich beobachtet, wie sie groschenweise nach unten sank. Jetzt endlich trieb sie nur noch allein zwischen vier roten und drei weißen Kugeln in einer Pfütze von abgeplatztem Zuckerlack durch das schnappende Rondell. Schwerfällig lag sie auf der Seite. Fast sah es aus, als sei sie trächtig und brauchte ein ruhiges Zuhause, eine Streichholzschachtel gefüllt mit Stroh, um zwischen ihren lang ausgestreckten Beinen eine junge Giraffe hervorkriechen zu lassen. Ich steckte die zehn Pfennig in den Schlitz. Langsam drehte ich den abgeriebenen Eisengriff mit leichtem Druck gegen den Automaten nach rechts. Ich machte die Augen zu, um mich besser konzentrieren zu können. Allein am Klang würde ich den Fall der Giraffe erkennen, denn sie rutscht, vom eigenen Gewicht und dem des Kleinen in ihr, mit verlagertem Schwerpunkt fast geräuschlos hinab. Ein Zittern ging durch den Automaten. Die Kugeln rasten auf die Falltür zu, überholten das angeschlagene Tier, das ungelenk und wie krank alle Viere von sich streckte. Die Klappe schnappte auf, griff sich eine Weiße und ließ sie triumphierend nach unten fallen. Ein Groschen ist zu wenig. Der Mittagsdunst fiel reglos auf den Giraffenleib. Ich zeigte der Giraffe meine leeren Hände, um ihr zu beweisen, dass ich nichts weiter tun konnte. Sie rührte sich nicht. Ich drehte mich um und ging nach Hause.   - (raf)

Giraffe (4)

Hals, tierischer
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