ewöhnlichkeit   Am 26. Mai 1788 wurde Mary Clark, sechsundzwanzig Jahre alt und Mutter von sechs Kindern, in der Carlisle Dispensary von einem Kind entbunden. Ich will hier nicht auf die medizinischen Einzelheiten eingehen, aber es hat den Anschein, daß das Kind »ausgetragen und bei bester Gesundheit war. Die Glieder des Mädchens waren rundlich, zart und gut proportioniert, und es bewegte sie mit offenkundiger Behendigkeit. Den Ärzten fiel auf, daß ihr Kopf eine merkwürdige Form hatte, aber das beunruhigte sie nicht sonderlich, denn das Kind verhielt sich wie üblich, und erst als sein Tod im Alter von fünf Tagen nicht mehr abzustreiten war, entdeckten die Herren, daß es auch nicht die leiseste Spur von Großhirn, Kleinhirn oder Rückenmark besaß«.

Mr. Kirby, aus dessen Ausführungen ich diese Geschichte herausgesucht habe und der zu den glücklichen Menschen gehört zu haben scheint, die sich niemals umtun, die aber, wenn sie mit einer unbezweifelbaren Tatsache konfrontiert werden, sehr leicht zu erstaunen sind, schließt mit diesem bedeutungsvollen Satz: »Zu den Rückschlüssen, die Dr. Heysham aus dieser außergewöhnlichen Körperbildung — wenn auch eher bescheiden und zaghaft — gezogen hat, gehört der folgende: daß das Lebensprinzip,  die Nerven von Rumpf und Extremitäten, daß also Empfindung und Bewegung unabhängig von einem Gehirn existieren können.«

Dies ist ein hervorragender Fall von Gewöhnlichkeit, und er ist zu einem solchen Grade von Vollkommenheit entwickelt, daß er exzentrisch wird. Noch einmal: Jeder sprachlose, aber bedeutungsvolle Kommentar zum Leben, jede Kritik an der Ordnung der Welt, wenn sie sich nur in einer einzigen Geste ausdrückt und diese verdreht genug ist, wird exzentrisch. - Aus: Edith Sitwell, Englische Exzentriker. Berlin 2000 (Wagenbach Salto 93, orig, 1933)

Gewöhnlichkeit (2) »Gewöhnlich kommt er vormittags um elf. Außer Ernst, dem Masseur, ist er der einzige, den sie im Bett empfängt.«

Und als er ironisch feixte, setzte sie hinzu:

»Es ist nicht so, wie Sie glauben. Selbst für den Anwalt zieht sie sich an. Ich muß sagen, sie kleidet sich gut und sehr unauffällig. Das ist mir übrigens sofort aufgefallen: Wenn sie im Bett liegt und wenn sie angezogen ist - das sind zwei ganz verschiedene Menschen. Sie spricht da sogar auf eine ganz andere Art; man könnte fast sagen, sogar ihre Stimme verändert sich.«

»Ist sie im Bett gewöhnlicher?«

»Ja. Nicht nur gewöhnlich. Ich weiß nicht, wie ich es bezeichnen soll.«

»Ist François Lagrange der einzige, den sie so empfängt?«

»Ja. Ganz gleich, in welcher Aufmachung sie gerade ist, ruft sie ihm zu; ›Komm 'rein.‹

Als ob sie alte Kameraden wären ...« - Georges Simenon, Maigret und sein Revolver. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 14, zuerst 1952)

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