eträumter   Ich ermangle der Wirklichkeit, ich fürchte, ich interessiere niemanden. Ich bin ein Fetzen, ein abhängiges Wesen, ein Gespenst. Ich lebe zwischen Ängsten und Wünschen; Ängsten und Wünschen, die mir Leben geben und die mich töten. Ich habe gesagt, daß ich ein Fetzen bin.

Ich liege im Dunkel, in langen unverständlichen Vergessenheiten. Plötzlich zwingen sie mich, ins Licht zu treten, ein blindes Licht, das mir fast die Wirklichkeit zusichert. Doch gleich darauf beschäftigen sie sich wieder mit sich selbst und vergessen mich. Wiederum verliere ich mich im Dunkel und gestikuliere mit immer ungenaueren Gebärden, zum Nichts, zur Unfruchtbarkeit geschrumpft.

Die Nacht ist mein eigentliches Reich. Vergebens versucht der in seinem Alptraum gekreuzigte Ehemann mich zu entfernen. Bisweilen befriedige ich aufgeregt und plump, auf unbestimmte Weise, das Verlangen der Frau, die sich träumend wehrt, verweigert und schließlich hingibt, weit und weich wie ein Kissen. Ich lebe ein prekäres Leben, unter diese beiden Menschenwesen aufgeteilt, die sich hassen und sich lieben, die mir die Geburt schenken wie einem ungestalten Sohn. Trotzdem bin ich schön und schrecklich. Ich zerstöre die Ruhe des Paars oder entfache es zu heißester Liebe. Bisweilen schiebe ich mich zwischen die beiden, und die innige Umarmung stellt mich wunderbar wieder her. Er bemerkt meine Gegenwart und bemüht sich, mich auszulöschen, mich zu ersetzen. Doch schließlich kehrt er bezwungen, erschöpft der Frau den Rücken zu, von Groll verzehrt. Ich bleibe bei ihr, der bebenden, und umschlinge sie mit meinen abwesenden Armen, die sich nach und nach im Traum auflösen.

Ich hätte anfangs sagen sollen, daß ich noch nicht ganz geboren bin, daß ich langsam, angstvoll, in einem langen, unterirdischen Prozeß entstehe. Mit ihrer Liebe mißhandeln sie unbewußt mein Dasein eines Ungeborenen.

Sie arbeiten lange an meinem Leben in ihren Gedanken, ungeschickte Hände, die sich heftig mühen, mich zu formen, immer unbefriedigt, mich zusammenzusetzen und wieder auseinandernehmen.

Doch eines Tages, wenn sie durch Zufall auf meine endgültige Form gestoßen sind, werde ich entweichen und werde mich selber träumen können, vibrierend vor Wirklichkeit. Dann wird sich der eine vom anderen trennen. Und ich werde die Frau verlassen und den Mann verfolgen. Ich werde die Tür zum Alkoven bewachen und ein flammendes Schwert schwingen. - Juan José Arreola, Confabulario total (1962), nach (bo4)

Geträumter (2)  ER ist von Beruf GETRÄUMTER. Dieser Beruf gefällt ihm, weil er ihn nicht zwingt, eine gleichbleibende Form zu haben, sondern ihm gestattet, zwischen allen möglichen Formen, die in einem Traum Verwendung finden, hin und her zu schwanken, mit einer Einschränkung, daß er nämlich der GETRÄUMTE BÖSE ist und ihm deshalb alle Rollen des Bösen zufallen, vom Faschisten bis zur Hexe. Er liebt die tierischen Formen, er ist gut als Schlange und als wütender Hund, zuweilen läßt man ihn den Zerberus spielen oder den Herodes - eine Rolle, die ihm sehr zusagt, wegen des Königsmantels und der Dienerschaft. Sein Beruf gefällt ihm auch deshalb, weil er sich der Tatsache bewußt ist, daß sein Eingreifen — so schmerzhaft es auch sein mag —den Träumern stets willkommen ist. Im allgemeinen hat ein Traum, in dem der GETRÄUMTE BÖSE auftritt, eine gewisse Würde und kann auch große Bedeutungen enthalten. Obwohl der GETRÄUMTE BÖSE keine großen Erleuchtungen in sich trägt, hält er sich gern in der Nachbarschaft der Offenbarungen und der tiefen Seelenforschungen auf — auch wenn er die Seele offenkundig nicht liebt. Der GETRAUMTE BÖSE ist - obgleich er äußerst unangenehm sein kann - nicht der ALPTRAUM. Wenn er einen Fortbildungskurs besuchte, könnte er auch ALPTRAUM werden, es steht aber außer Zweifel, daß das Amt eines ALPTRAUMS ungleich beschwerlicher ist, auch wenn die Dienstleistungen seltener sind. Er hat ein paar Freunde unter den ALPTRÄUMEN und ist stolz darauf, ebenso wie er sich geehrt fühlt, zuweilen mit den BEDEUTUNGEN, die im allgemeinen wählerisch und spröde sind, an einem Tisch essen zu dürfen. Mit den BEDEUTUNGEN zu verkehren ist äußerst wohltuend, da sie eine rare aber um so schmeichelhaftere Zutraulichkeit zeigen, doch die ALPTRÄUME sind oft bedrückend und ihre Art zu lachen ist nicht befreiend. Im übrigen sind die ALPTRÄUME nicht verpflichtet, eine bestimmte Form anzunehmen, sondern können auch reine Unbestimmtheit bleiben, wenn sie Gäste haben, erscheinen sie meistens als Pferd oder als Gliederpuppe, trotzdem zögert der GETRÄUMTE nicht, mit ihnen zu verkehren, zumal sie gesellschaftlich aufwertende Freundschaften darstellen, außerdem kann man — auch wenn sie etwas gänzlich anderes sind - immer irgendwelche professionellen Finessen von ihnen lernen. Und schließlich ist der GETRÄUMTE ja eine Art Emporkömmling, er hat aber viel Arbeit und sein Lebensstil ist mehr als achtunggebietend, außerdem kommt es im allgemeinen ihm und nicht den ALPTRÄUMEN zu, Katastrophen und Todesfälle anzukündigen - eine Aufgabe, die allgemein als nicht unvornehm gilt.  - (pill)

Geträumter (3)    Ich bin -  und ich will es aussprechen, obwohl Ihr mir wahrscheinlich nicht glauben werdet — ich bin nichts anderes als die Gestalt eines Traumes. Ein Bild William Shakespeares ist für mich buchstäblich und auf tragische Weise zutreffend: Ich bin aus demselben Stoff, aus dem eure Träume sind! Ich existiere, weil es einen gibt, der mich träumt; es gibt einen, der schläft und träumt, der mich in diesem Traum handeln, leben und bewegen sieht und der in diesem Augenblick träumt, daß ich all das sage. Als dieser eine begonnen hat, mich zu träumen, habe ich angefangen zu existieren. Wenn er aufwachen wird, werde ich aufhören zu existieren. Es gibt mich nur in seiner Vorstellung, ich bin seine Schöpfung, ein Gast seiner langen nächtlichen Phantasien. Der Traum dieses einen ist so andauernd und intensiv, daß ich auch für die wachen Menschen sichtbar geworden bin. Doch die Welt des wachen Zustands, die Welt der konkreten Wirklichkeit ist nicht die meine. Ich fühle mich so unwohl inmitten der gewöhnlichen Gemeinschaft Eurer Existenz! Mein Leben zerrinnt in der Seele meines schlafenden Schöpfers ... - Giovanni Papini, Der letzte Besuch des Kranken Gentleman. In. G.P., Der Spiegel auf der Flucht (Spiegelfluchten). Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges
 
Träume Gespenst
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