espenstertheorie
Freuds Theorie, daß der Gespensterglaube
aus den bösen Gedanken der Lebenden gegen die Verstorbenen kommt, aus der
Erinnerung an alte Todeswünsche, ist zu plan. Der Haß gegen die Verstorbenen
ist Eifersucht nicht weniger als Schuldgefühl. Der Zurückbleibende fühlt
sich verlassen, er rechnet seinen Schmerz dem Toten an, der ihn verursacht.
Auf den Stufen der Menschheit, auf denen der Tod noch unmittelbar als Fortsetzung
der Existenz erschien, wirkt das Verlassen im Tod notwendig als Verrat,
und selbst im Aufgeklärten pflegt der alte Glaube nicht ganz erloschen
zu sein. Dem Bewußtsein ist es unangemessen, den Tod als absolutes Nichts
zu denken, das absolute Nichts denkt sich nicht. Und wenn dann die Last
des Lebens sich wieder auf den Hinterbliebenen legt, erscheint die Lage
des Toten ihm leicht als der bessere Zustand. Die Weise, in der manche
Hinterbliebene nach dem Tod eines Angehörigen ihr Leben neu organisieren,
der betriebsame Kult mit dem Toten oder umgekehrt, das als Takt rationalisierte
Vergessen, sind das moderne Gegenstück zum Spuk,
der, unsublimiert, als Spiritismus weiterwuchert. Einzig das ganz bewußt
gemachte Grauen vor der Vernichtung setzt das
rechte Verhältnis zu den Toten: die Einheit mit ihnen, weil wir wie sie
Opfer desselben Verhältnisses und derselben enttäuschten
Hoffnung sind. - Max Horkheimer und Theodor W. Adorno,
Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1969 (zuerst 1947)