esichtslosigkeit
Ein älterer Mann, der Lepra hatte — die gab es hier also noch? ja!
—, nasen-, lippen- und fast ohrenlos, stand an der hellsten Stelle der Straße,
in den Scheinwerfern für eine noch abwesende Musikantengruppe, und wandte in
einem fort den Kopf auf der Suche nach Leuten, die er ansprechen könnte, nicht
für einen Dialog, sondern allein für seine, des Gesichtslosen, große, vor allem
aus Schimpfwörtern bestehende Rede: aus der Unförmigkeit seiner Züge ein umso
schärferes Herausfunkeln der überklar eingezeichneten, jugendlichen Augen; während
neben ihm in dem Lichtstrahl eine uralte Wahnsinnige tanzte, das Gesicht hinaufgedreht
in den Nachthimmel, unterdessen einen jeden, der sie zu übersehen versuchte,
strafend mit einem Blick so von höchst oben herab.
- Peter Handke,
In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt am Main 1999
(st 2946, zuerst 1997)
Gesichtslosigkeit (2)
Er glaubte oft genug, diese Dinge nicht übergehen zu dürfen, diese charakteristischen
Begegnungen, auch wenn sie sich - unmittelbar vor ihm
- gleichsam in einer anderen Lufthülle abspielten, so daß niemals genau zu erkennen
war, welchen Sinn sie hatten. Oder gerade deshalb ... gerade deshalb mußte er
sie ergründen, es waren nicht Begegnungen mit ihm, es war das Aufeinandertreffen
von Schatten, es waren Schatten, die, ein winziges
Stück vor ihm, seinen eigenen Schatten kreuzten, ein paar Augenblicke anhielten
und in eine schattenhafte Auseinandersetzung verwickelt schienen ... aber nicht
mit ihm selbst, sondern nur mit irgendeiner Ausdünstung, mit einem merkwürdigen
Extrakt von ihm ... und diese Treffen hatten etwas von Vorbedeutungen, wenn
auch von vornherein sicher schien, daß sie auf nichts hinwiesen, was zu erwarten
war ... oder es waren Funktionen, allein noch zur Bestätigung ihrer eigenen
Existenz intakt. Es waren wirkungslose und nicht mehr zu begründende Funktionen,
die in der Art altüberkommener, sinnentleerter Etikette weiterhin in Gebrauch
waren; sie waren schon an den Sprachfloskeln zu erkennen, mit denen sie sich
ankündigten: auch diese waren ohne jede Notwendigkeit, niemand mehr wußte, aus
welchem Anlaß sie in Gebrauch geraten waren, doch bestanden sie mangels wahrer
Alternativen weiter fort... und schließlich existierten sie längst abgetrennt
von den Handlungen, deren Wirkung sie einst hatten begleiten sollen. Eange schon
war ihm das Leben, das ihm an solchen Abenden über den Weg lief, schwer verkrüppelt
erschienen, nun aber glaubte er sich sagen zu müssen, daß die Akteure dieser
Begegnungen allesamt schon als Tote durch den Tag geirrt waren: und am Abend
versuchten sie ihn an sich zu reißen, als sei in ihm noch ein schwacher Schimmer
von Lebendigkeit. Am Abend plötzlich ahnten sie selbst etwas von ihrer Verfassung:
sie traten dicht an ihn heran, fast bis auf das Risiko der Körperberührung zur
Nähe entschlossen, und C. bemerkte - wenn noch das diffuse Licht zwischen Nachmittag
und Abend herrschte -, daß ihre Gesichter jede Kontur verloren hatten, ja, sie
waren schon aller Sinnesorgane ledig, es waren entstofflichte, breiige und bleiche
Flecken, in ovaler Form, die von dunkleren, aber ebenso blutlosen Schattenrissen
durch den erloschenen Tag getragen wurden. Noch vorgestern waren sie ihm wie
Larven erschienen, die vom aschhellen Flaum der Schneeflocken besetzt waren,
darunter hatte der Verschleiß ihrer Züge versteckt gelegen ... heute war er
hervorgetreten, der Ausdruck des Verfalls in diesem
Antlitz, das in einem ungewissen Punkt einheitlich war: stets gemahnte es an
ein hohes Alter ... selbst wenn sie noch jung waren, noch jugendlich, es war
eine uralte Jugend in den Gesichtsovalen, die auf einem Vergessen
beruhte; sie hatten vergessen, der Natur ihre Zeit zu opfern, sagte sich C.,
und deshalb waren sie zu diesem Ebenmaß verschliffen, das völlig gesichtslos
war. -
Wolfgang Hilbig: Er, nicht ich. In: W.H., Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main
1993
Noppera-bo, das japanische Gespenst ohne Gesicht
Gesichtslosigkeit (4)
Gesichtslosigkeit (5)
Nichts erscheint uns armseliger und erweckt in uns mehr Mitleid als ein Ding
ohne Gesicht. Psychologen wollen herausgefunden haben, dass wir auf kleine Nasen
und große Augen mit Zuneigung reagieren, da unser Schutzinstinkt geweckt wird,
doch sie haben nur unterschiedliche Gesichter miteinander verglichen. Das Gesichtslose
weckt jedoch ein noch tieferes, fast in den undifferenzierten Bereich der Seele
vordringendes Gefühl des Erbarmens in uns. Wenn
ich beispielsweise die Zigarettenstummel in meinem Aschenbecher betrachte, die
sich als kleine gesichtslose Wesen in ihren fast unsichtbar dünn gestreiften
weißen Häutchen in der Aschenlache dieses alten Untersetzers krümmen, überkommt
mich mehr Mitgefühl, als ich es je einem hilflos mich anstarrenden Mensehen
entgegenbringen könnte. - (raf)
|
|