Gesellschaft, azephale  Eine Instanz, die sie zentral zu steuern vermöchte, ist in den »avancierten« Ländern überhaupt nicht mehr zu erkennen; ja man könnte sogar behaupten, daß es sich hier um azephale Gesellschaften handelt - es wäre dies die ironische Auferstehung eines Zustandes, den die Ethnologen bei prähistorischen Völkern entdeckt haben wollen. Natürlich bedeutet das keineswegs, daß Macht, Reichtum, Chancen in einem solchen Ensemble gleichmäßiger oder gar gerecht verteilt wären. Es heißt nur, daß sich nach der Auflösung festgefügter, hierarchisch gegliederter Standes- und Klassenverhältnisse ein instabiles, dynamisches Fließgleichgewicht bildet, das sich dauernd planlos reproduziert und verändert. Regierungen und Parteien haben in einem solchen System längst aufgehört, »die Richtlinien der Politik zu bestimmen« oder gar, wie in den alten physiologischen Metaphern, als Kopf, Gehirn, Zentralnervensystem des Ganzen zu füngieren; sie versuchen allenfalls, um im Bilde zu bleiben, eine Art von hormonaler Steuerung, um zu verhindern, daß sich die Turbulenzen zur Katastrophe aufschaukeln. Selbst mit dieser Aufgabe scheinen sie überfordert. Wo sie frontal gegen die Resultante des ungeplanten sozialen Prozesses anzugehen versuchen, scheitern sie regelmäßig: »das ist«, wie die Funktionäre dann zu sagen pflegen, »politisch nicht machbar.«   - Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002
 

Gesellschaft

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