Geschlecht, zweites  Mein Aufsatz  mußte in zwei Stunden fertig sein! In meiner Verzweifelung begann ich zu schreiben: Die Bestimmung des Menschen ist, die Räthsel, mit denen ihn diese Welt urngiebt, zu lösen, und sich zur ruhigen Geistesklarheit durchzuringen; so auf meine persönlichen Erlebnisse und den Gegenstand meiner Zweifelsqualen anspielend. Und nun begann ich, rückhaltlos die Erlebnisse meiner letzten Jahre, innerer und äußerer Natur, die Annahme eines zweiten Menschengeschlechts, meine Visionen und Peinigungen, bei Tag und bei Nacht, mein Occupirt-Sein durch jenes Orange-Wesen, darzulegen, und schloß die unermüdlich hingeworfene Studie mit der Emphase: das ist unsere Bestimmung, das ist unser Fluch, zu grübeln und zu spintisiren, die Schliche und Verhüllungen unserer Nebenmenschen aufzudecken, den Kern aus der Schale zu brechen, die Panzer abzureißen: ein Geschlecht läuft neben uns her, seltsam gebildet, mit ausladenden, outrirten Formen; die Blicke dunkel und verzehrend, die Haut schneeweiß, fuchtelnde Arme, auf der Brust zwei ungeberdige Ballen, die seltsam in der Kleidung versteckt werden; über Hüfte und Leib schillernde, seidene, farbige Ueberzüge von unbekannter, geheimnißvoller Herkunft; weiterhin sonderlich gebildet, alles glatt und weich, zart und behext; das einmal gesehen, die Phantasie nicht mehr losläßt, die Gymnasiasten verwirrt, ihnen das Gedächtniß auslöscht, sie dem Verderben zuführen will.   -  Oskar Panizza, Der Corsetten-Fritz. In: Ders., Der Korsettenfritz. Geschichten. München 1981 (zuerst ca. 1905)
 
 

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