- Willy Hochkeppel,
Denken als Spiel. München 1974 (dtv 965)
Geschehen
(2) In der Nacht ist etwas geschehen - oder, besser gesagt,
etwas ist geplatzt - oder vielleicht ist etwas zerbrochen . . . Eigentlich weiß
ich nicht, was geschehen ist, und sogar, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist
nichts geschehen - aber eben das, daß »nichts geschehen ist«, ist wichtiger
und sogar schrecklicher, als wenn etwas geschehen wäre. Hier das Ereignis: ich
bemühte mich einzuschlafen und verfiel in tiefen Schlaf (denn ich hatte in letzter
Zeit wenig geschlafen), aber plötzlich erwachte ich, von einer entsetzlichen,
bedrückenden Sorge gequält, daß irgend etwas geschieht . . . worüber ich keine
Gewalt habe . . . etwas außerhalb meiner. Ich sprang vom Bett auf, lief hinaus,
und dort, an Deck, gespannte Stahlleinen, Vibrationen und diese Gespanntheit
des im Schweigen vorausjagenden Ganzen, in der Nacht, in der Unbeweglichkeit
und der Unsichtbarkeit der Welt, diese Bewegung, das einzig Lebendige. Wir schwammen.
Und auf einmal (wie ich schon sagte) zerbrach etwas, und das Siegel des Schweigens
zersprang, und ein Schrei ... ein einmaliger, lauter
Schrei . . . erscholl. . . Ein Schrei, den es nicht gab! Ich wußte mit ganzer
Gewißheit, daß niemand geschrien hatte, und gleichzeitig wußte ich, daß der
Schrei da war . . . Aber, da es keinen Schrei gegeben hatte, erkannte ich mein
Entsetzen als nicht gewesen und kehrte in die Kajüte
zurück und schlief sogar ein.
- (
gom
)
Geschehen
(3) Religiöses klingt erotisch vor dem Affenkäfig aus. Bebuquin
irrte mit wundem Hals zwischen den Physiognomien der Häuser. Eine Kokotte tanzte
angeheitert an einer Ecke und stapelte ihr vom Frontkorsett aufgetürmtes Posterieur
gegen den Sternenhimmel. Euphemia stieg beruhigt und äußerst heilig in eine
Nonnenkutte und verließ den Zirkus. Ernst, die Fingernägel polierend, kopfschüttelnd
die Straffheit ihrer Brüste hie und da prüfend, begab sie sich gelassen zum
Kloster des kostenlosen Blutwunders. -
(
beb
)
Geschehen
(4) Ein Fremder kam in Edsu Edegis Stadt. Er war ein Haussa.
Edsu Edegi wies ihn einem angesehenen Mann zu. Der gab ihm eine Hütte in
seinem Gehöft. Nach einiger Zeit bekam der Mann Hunger. Er ging hinaus
auf den Markt. Er kaufte von einer Frau einen Issa (gleich den Furra der
Haussa, das sind Ballen aus Guineakornmehl). Der Haussa nahm den Is-saballen.
Er wollte die zwanzig Kauri aus seiner Tasche nehmen, um ihn zu bezahlen.
In die Tasche war ein Skorpion geschlüpft. Der Skorpion stach den Mann
in die Hand. Dann lief er durch die Falten auf den Rücken des Mannes und
stach ihn in den Rücken. Der Haussa zog nun schnell den Rock aus. Die Frau,
von der er den Issa gekauft hatte, erschrak. Sie schrie. Das hörte der
Mann der Frau. Er kam herbeigelaufen. Er sah den nackten Mann vor seiner
Frau. Er fragte nicht, was sich ereignet habe. Er begann auf den Haussa
loszuschlagen. Das sah der Hausherr des Haussa. Er rief: »Man schlägt den
Fremden Edsu Edegis!« Er rannte dazu und schlug auch auf den Ehemann ein,
ohne zu fragen. - Leo Frobenius, Schwarze Sonne Afrika.
München 1996
Geschehen (5)
Geschehen (6) Ich nenne dich ‹du›, als wärst du ein Wesen, Tier Pflanze Stein wie ich. Da sehe ich schon meine Hilflosigkeit und daß jedes Wort vergebens ist. Ich will nicht wagen euch nahe zu treten, ihr Ungeheuren, Ungeheuer, die mich auf die Welt getragen haben, dahin, wo ich bin und wie ich bin. Ich bin nur eine Karte, die auf dem Wasser schwimmt. Ihr Tausendnamigen Namenlosen hebt mich, bewegt mich, tragt mich, zerreibt mich.
Ich habe schon Vieles geschrieben. Nur herumgegangen bin ich um euch. Mit Angst habe ich mich vor euch entfernt. In meiner Demut vor euch war Angst vor Lähmung und Betäubung. Immer habe ich euch, ich gestehe es, als Schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens gehabt. Da hatte ich euch verborgen, hielt die Türe zu. Jetzt spreche ich - ich will nicht du und ihr sagen - von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf. Dem, was schwirrender Wind ist. Was im Feuer brennt, dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weißen Roten. Was kalt und warm ist, blitzt, Wolken häuft, Wasser heruntergießt, magnetisch hin- und herschleicht. Was sich in Tieren sammelt, in ihnen die Schlitzaugen nach rechts und links bewegt auf ein Reh, daß sie springen schnappen, die Kiefern öffnen und schließen. Von dem, was dem Reh Furcht macht. Von seinem Blut, das fließt und das das andere Tier trinkt. Von dem Tausendwesen, das in den Stoffen Steinen Gasen haucht, raucht, sich löst, verbindet, verweht. Immer neuer Hauch und Rauch. Immer neues Prasseln Verschmelzen Verwehen. Jede Minute eine Veränderung. Hier wo ich schreibe, auf dem Papier, in der fließenden Tinte, in dem Tageslicht, das auf das weiße knisternde Papier fällt. Wie sich das Papier biegt, Falten wirft unter der Feder. Wie die Feder sich biegt, streckt. Meine führende Hand wandert von links nach rechts, nach links vom Zeilenende zurück. Ich spüre am Finger den Halter: das sind Nerven, sie sind vom Blut umspült. Das Blut läuft durch den Finger, durch alle Finger, durch die Hand, beide Hände, die Arme, die Brust, den ganzen Körper, seine Haut Muskeln Eingeweide, in alle Flächen Ecken Nischen. So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin nur ein Einzelnes, ein winziges Stück Raum. Auf meinem Tisch, dem weißen Tuch verwelken drei gelbe Tulpen, jedes Blatt daran unübersehbar reich. Daneben grüne Blätter von Weißdorn Rotdorn. Unten auf dem Rasen Stiefmütterchen Vergißmeinnicht Veilchen. Es ist Mai. Ich habe nicht gezählt, wie viele Bäume Blumen Gräser in den Anlagen stehen. An jedem Blatt Stengel Wurzelschaft geschieht sekundlich etwas.
Da arbeitet das Tausendnamige. Da ist es.
Singen der Drosseln, Rasseln Schmettern der Schienen: da ist es. Stille,
mit einer Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch weiß, daß sie
abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich Wälzende Drehende Aufsteigende
Zurückfallende sich Kreuzende. - (gig)
Geschehen (7)
Geschehen
(8) Das bessere Negerdorf mit Glasschuppen volià
sagte der graf denn er sprach geläufig französisch das milchlied jese fuße wundermild
bricht der gischt aus dem darm der falben kuh und jetzt noch immer sind die
weine blau der apis lok den stachel von der ziegelecke in diesem sinne sparen
daß man die feuerwerkszigaretten nicht als cumulus verwendet stets noch haben
mandrille zum frühstück geschwächt second robinet de douleur froide au music-hall
auf den gekalkten hühnergittern kleben die kometenschwänze und das brot Christian
séance und der bleistift und das weitere doch schießen tannenrocken gegen die
blechsterne und die wollknäuel zwischen kutschern astronomen und laternen steht
es fest high-life-serpentinen die hahnenkämme werden rasiert und nach mitternacht
bilden sich aus pfeifen die bäume an denen die streichholzschachtelfrüchte die
abenteuer mit strohbärten beherbergen tabac aromatique et léger die kleinen
gummibälle fuhren doch ein eigenes leben bald klappen sie das eine auge zu bald
das andere auf die turnermütter klemmen die monokel
ihren toten söhnen unter die achseln und singen it's a long way jusqu'au bout
im stuhl sitzt arp mit einer käsemilbe auf dem schoß
die trägt in den händen zwei minarette und senkt die kleinen anker gegen die
nebel tzaras croix d'honneur und schräggestellte
pupillen wachsen auf unregelmäßig geöffneten meterphilosophen und zent-nermassen
und da sitzt serner den spazierstock hinterm ohr und überhaupt wie gelernt diejenigen
straßen der stadtteile rotfärbend poussez poussez m denen binnenlandschaften
sich ernähren und müde ist er und wieder sitzt serner
da magenweh im globus und denkt an jene leiter welche eins zu tausend typographisch
auf tapeten the mistres schambärte und berge und arp sitzt da mit einem wischer
vor der tunnelbraut le pantoufle voilà sagte er und dada sind serner und tzara
ist da und meinte im hotel nebenbei könnte man zum beispiel die restbestandteile
rubiners die der flieger white nicht aufarbeitete zu einer neuen vorspeise vorkitzeln
als der lauf in seinem myrthenkranz am linken knie zu streusandwichtig sauste
marque déposée - Walter Serner, Das Hirngeschwür. DADA. Gesammelte Werke 11, Hg. Thomas
Milch. München 1988
Geschehen
(9) Alles geschieht nach dem Gesetz der Gegensätzlichkeit,
und das Ganze ist in strömender Bewegung wie ein Fluß. Das All ist begrenzt,
und es ist nur eine Welt. Sie entsteht aus dem Feuer
und löst sich nach Maßgabe gewisser Umläufe (Perioden) auch wieder in Feuer
auf, ein Vorgang, der sich wechselweise im Verlaufe der ewigen Zeit immer wiederholt;
dies geschieht nach unverbrüchlicher Schicksalsfügung. Von den Gegensätzen
aber wird dasjenige Glied, welches zur Entstehung
führt, Krieg und Streit
genannt, dasjenige, welches zum Weltbrand führt, Eintracht und Friede,
und die Umwandlung ist der Weg nach oben und
unten; ihr gemäß bildet sich die Welt. -
(diol)
Geschehen
(10) Es geschieht. Damit es geschehe, wird ein andres Geschehen
sich ändern müssen; oder etwas, das bisher ohne Bewegung war, wird sich bewegen
müssen. Wenn etwas immerfort stillsteht, wird mit ihm nichts geschehen; entweder
wird es von selbst sich bewegen, oder ein andres wird von außen ihm die Bewegung
geben: dann wird es geschehen sein. Die Bewegung braucht ein anderer nicht zu
sehen; sie braucht nicht zu hören sein; auch der Gedanke
ist eine Bewegung, mag er auch unsichtbar sein: wenn der Gedanke entsteht, so
geschieht es. Auch der Schmerz, der entsteht,
ist eine Bewegung; er entsteht in dem Körper, den einer betrachtet, ohne daß
der, der den Körper betrachtet, ihn spürt; es geschieht, da etwas, das bisher
in dem Körper ohne Bewegung war, sich bewegt hat. Wenn etwas .beginnt, so geschieht
es; wenn etwas sich ändert, geschieht es; auch
etwas, das endet, geschieht; wenn aber etwas immerzu gleichbleibt, sei es Im
Stillstand oder in seiner Bewegung, wenn aber etwas weder von selber sich ändert
noch von außen geändert wird, so wird mit ihm nichts geschehen; wenn etwas in
der natürlichen Ordnung, die ihm gegeben ist, ablauft, ohne sich je zu verändern,
so wird, mag es sich auch bewegen, mit ihm nichts geschehen. In dem Ausguß,
aus dem es schon immer nach fauler Milch und nach fauligem Wasser stinkt, geschieht
nichts und ist nichts geschehen, wohl aber in dem, der, als er sich vorbeugt,
plötzlich daraus den Geruch in den Leib schluckt. -
Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977
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