eschehen     Ein Geschehen ist nicht unbedingt immer auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Manchmal müssen mehrere Ursachen zur Begründung herangezogen werden. Wenn man das nicht erkennt, findet man für irgendein Phänomen die erstaunlichsten Erklärungen. Zum Beispiel wenn ein Insektenforscher glaubt, eine neue Spezies entdeckt zu haben, bei welcher die Hörorgane in den Beinen untergebracht sein sollen. Zum Beweis seiner These führt er seinem Kollegen dieses Experiment vor: «Passen Sie auf», so sagt er und deutet auf das kleine Tierchen auf dem Tisch, «ich rufe jetzt ‹hopp› und das Tierchen wird sich in Bewegung setzen. Hopp! - Sehen Sie, es läuft ein Stück vorwärts. Nun geben Sie acht, jetzt werde ich dem Insekt die Beine abnehmen. So. Jetzt rufe ich wieder ‹hopp›. Was sehen Sie? Das Tierchen rührt sich nicht von der Stelle. Also...».  - Willy Hochkeppel, Denken als Spiel. München 1974 (dtv 965)

Geschehen (2)   In der Nacht ist etwas geschehen - oder, besser gesagt, etwas ist geplatzt - oder vielleicht ist etwas zerbrochen . . . Eigentlich weiß ich nicht, was geschehen ist, und sogar, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist nichts geschehen - aber eben das, daß »nichts geschehen ist«, ist wichtiger und sogar schrecklicher, als wenn etwas geschehen wäre. Hier das Ereignis: ich bemühte mich einzuschlafen und verfiel in tiefen Schlaf (denn ich hatte in letzter Zeit wenig geschlafen), aber plötzlich erwachte ich, von einer entsetzlichen, bedrückenden Sorge gequält, daß irgend etwas geschieht . . . worüber ich keine Gewalt habe . . . etwas außerhalb meiner. Ich sprang vom Bett auf, lief hinaus, und dort, an Deck, gespannte Stahlleinen, Vibrationen und diese Gespanntheit des im Schweigen vorausjagenden Ganzen, in der Nacht, in der Unbeweglichkeit und der Unsichtbarkeit der Welt, diese Bewegung, das einzig Lebendige. Wir schwammen. Und auf einmal (wie ich schon sagte) zerbrach etwas, und das Siegel des Schweigens zersprang, und ein Schrei ... ein einmaliger, lauter Schrei . . . erscholl. . . Ein Schrei, den es nicht gab! Ich wußte mit ganzer Gewißheit, daß niemand geschrien hatte, und gleichzeitig wußte ich, daß der Schrei da war . . . Aber, da es keinen Schrei gegeben hatte, erkannte ich mein Entsetzen als nicht gewesen und kehrte in die Kajüte zurück und schlief sogar ein.  - (gom)

Geschehen (3)  Religiöses klingt erotisch vor dem Affenkäfig aus. Bebuquin irrte mit wundem Hals zwischen den Physiognomien der Häuser. Eine Kokotte tanzte angeheitert an einer Ecke und stapelte ihr vom Frontkorsett aufgetürmtes Posterieur gegen den Sternenhimmel. Euphemia stieg beruhigt und äußerst heilig in eine Nonnenkutte und verließ den Zirkus. Ernst, die Fingernägel polierend, kopfschüttelnd die Straffheit ihrer Brüste hie und da prüfend, begab sie sich gelassen zum Kloster des kostenlosen Blutwunders.  - (beb)

Geschehen (4)  Ein Fremder kam in Edsu Edegis Stadt. Er war ein Haussa. Edsu Edegi wies ihn einem angesehenen Mann zu. Der gab ihm eine Hütte in seinem Gehöft. Nach einiger Zeit bekam der Mann Hunger. Er ging hinaus auf den Markt. Er kaufte von einer Frau einen Issa (gleich den Furra der Haussa, das sind Ballen aus Guineakornmehl). Der Haussa nahm den Is-saballen. Er wollte die zwanzig Kauri aus seiner Tasche nehmen, um ihn zu bezahlen. In die Tasche war ein Skorpion geschlüpft. Der Skorpion stach den Mann in die Hand. Dann lief er durch die Falten auf den Rücken des Mannes und stach ihn in den Rücken. Der Haussa zog nun schnell den Rock aus. Die Frau, von der er den Issa gekauft hatte, erschrak. Sie schrie. Das hörte der Mann der Frau. Er kam herbeigelaufen. Er sah den nackten Mann vor seiner Frau. Er fragte nicht, was sich ereignet habe. Er begann auf den Haussa loszuschlagen. Das sah der Hausherr des Haussa. Er rief: »Man schlägt den Fremden Edsu Edegis!« Er rannte dazu und schlug auch auf den Ehemann ein, ohne zu fragen.  - Leo Frobenius, Schwarze Sonne Afrika. München 1996

Geschehen (5)

Geschehen (6)  Ich nenne dich ‹du›, als wärst du ein Wesen, Tier Pflanze Stein wie ich. Da sehe ich schon meine Hilflosigkeit und daß jedes Wort vergebens ist. Ich will nicht wagen euch nahe zu treten, ihr Ungeheuren, Ungeheuer, die mich auf die Welt getragen haben, dahin, wo ich bin und wie ich bin. Ich bin nur eine Karte, die auf dem Wasser schwimmt. Ihr Tausendnamigen Namenlosen hebt mich, bewegt mich, tragt mich, zerreibt mich.

Ich habe schon Vieles geschrieben. Nur herumgegangen bin ich um euch. Mit Angst habe ich mich vor euch entfernt. In meiner Demut vor euch war Angst vor Lähmung und Betäubung. Immer habe ich euch, ich gestehe es, als Schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens gehabt. Da hatte ich euch verborgen, hielt die Türe zu. Jetzt spreche ich - ich will nicht du und ihr sagen - von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf. Dem, was schwirrender Wind ist. Was im Feuer brennt, dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weißen Roten. Was kalt und warm ist, blitzt, Wolken häuft, Wasser heruntergießt, magnetisch hin- und herschleicht. Was sich in Tieren sammelt, in ihnen die Schlitzaugen nach rechts und links bewegt auf ein Reh, daß sie springen schnappen, die Kiefern öffnen und schließen. Von dem, was dem Reh Furcht macht. Von seinem Blut, das fließt und das das andere Tier trinkt. Von dem Tausendwesen, das in den Stoffen Steinen Gasen haucht, raucht, sich löst, verbindet, verweht. Immer neuer Hauch und Rauch. Immer neues Prasseln Verschmelzen Verwehen. Jede Minute eine Veränderung. Hier wo ich schreibe, auf dem Papier, in der fließenden Tinte, in dem Tageslicht, das auf das weiße knisternde Papier fällt. Wie sich das Papier biegt, Falten wirft unter der Feder. Wie die Feder sich biegt, streckt. Meine führende Hand wandert von links nach rechts, nach links vom Zeilenende zurück. Ich spüre am Finger den Halter: das sind Nerven, sie sind vom Blut umspült. Das Blut läuft durch den Finger, durch alle Finger, durch die Hand, beide Hände, die Arme, die Brust, den ganzen Körper, seine Haut Muskeln Eingeweide, in alle Flächen Ecken Nischen. So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin nur ein Einzelnes, ein winziges Stück Raum. Auf meinem Tisch, dem weißen Tuch verwelken drei gelbe Tulpen, jedes Blatt daran unübersehbar reich. Daneben grüne Blätter von Weißdorn Rotdorn. Unten auf dem Rasen Stiefmütterchen Vergißmeinnicht Veilchen. Es ist Mai. Ich habe nicht gezählt, wie viele Bäume Blumen Gräser in den Anlagen stehen. An jedem Blatt Stengel Wurzelschaft geschieht sekundlich etwas.

Da arbeitet das Tausendnamige. Da ist es.

Singen der Drosseln, Rasseln Schmettern der Schienen: da ist es. Stille, mit einer Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch weiß, daß sie abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich Wälzende Drehende Aufsteigende Zurückfallende sich Kreuzende.  - (gig)

Geschehen (7)  

Geschehen (8)  Das bessere Negerdorf mit Glasschuppen  volià sagte der graf denn er sprach geläufig französisch das milchlied jese fuße wundermild bricht der gischt aus dem darm der falben kuh und jetzt noch immer sind die weine blau der apis lok den stachel von der ziegelecke in diesem sinne sparen daß man die feuerwerkszigaretten nicht als cumulus verwendet stets noch haben mandrille zum frühstück geschwächt second robinet de douleur froide au music-hall auf den gekalkten hühnergittern kleben die kometenschwänze und das brot Christian séance und der bleistift und das weitere doch schießen tannenrocken gegen die blechsterne und die wollknäuel zwischen kutschern astronomen und laternen steht es fest high-life-serpentinen die hahnenkämme werden rasiert und nach mitternacht bilden sich aus pfeifen die bäume an denen die streichholzschachtelfrüchte die abenteuer mit strohbärten beherbergen tabac aromatique et léger die kleinen gummibälle fuhren doch ein eigenes leben bald klappen sie das eine auge zu bald das andere auf die turnermütter klemmen die monokel ihren toten söhnen unter die achseln und singen it's a long way jusqu'au bout im stuhl sitzt arp mit einer käsemilbe auf dem schoß die trägt in den händen zwei minarette und senkt die kleinen anker gegen die nebel tzaras croix d'honneur und schräggestellte pupillen wachsen auf unregelmäßig geöffneten meterphilosophen und zent-nermassen und da sitzt serner den spazierstock hinterm ohr und überhaupt wie gelernt diejenigen straßen der stadtteile rotfärbend poussez poussez m denen binnenlandschaften sich ernähren und müde ist er und wieder sitzt serner da magenweh im globus und denkt an jene leiter welche eins zu tausend typographisch auf tapeten the mistres schambärte und berge und arp sitzt da mit einem wischer vor der tunnelbraut le pantoufle voilà sagte er und dada sind serner und tzara ist da und meinte im hotel nebenbei könnte man zum beispiel die restbestandteile rubiners die der flieger white nicht aufarbeitete zu einer neuen vorspeise vorkitzeln als der lauf in seinem myrthenkranz am linken knie zu streusandwichtig sauste marque déposée   -  Walter Serner, Das Hirngeschwür. DADA. Gesammelte Werke 11, Hg. Thomas Milch. München 1988

Geschehen (9)   Alles geschieht nach dem Gesetz der Gegensätzlichkeit, und das Ganze ist in strömender Bewegung wie ein Fluß. Das All ist begrenzt, und es ist nur eine Welt. Sie entsteht aus dem Feuer und löst sich nach Maßgabe gewisser Umläufe (Perioden) auch wieder in Feuer auf, ein Vorgang, der sich wechselweise im Verlaufe der ewigen Zeit immer wiederholt; dies geschieht nach unverbrüchlicher Schicksalsfügung. Von den Gegensätzen aber wird dasjenige Glied, welches zur Entstehung führt, Krieg und Streit genannt, dasjenige, welches zum Weltbrand führt, Eintracht und Friede, und die Umwandlung ist der Weg nach oben und unten; ihr gemäß bildet sich die Welt. - (diol)

Geschehen (10)  Es geschieht. Damit es geschehe, wird ein andres Geschehen sich ändern müssen; oder etwas, das bisher ohne Bewegung war, wird sich bewegen müssen. Wenn etwas immerfort stillsteht, wird mit ihm nichts geschehen; entweder wird es von selbst sich bewegen, oder ein andres wird von außen ihm die Bewegung geben: dann wird es geschehen sein. Die Bewegung braucht ein anderer nicht zu sehen; sie braucht nicht zu hören sein; auch der Gedanke ist eine Bewegung, mag er auch unsichtbar sein: wenn der Gedanke entsteht, so geschieht es. Auch der Schmerz, der entsteht, ist eine Bewegung; er entsteht in dem Körper, den einer betrachtet, ohne daß der, der den Körper betrachtet, ihn spürt; es geschieht, da etwas, das bisher in dem Körper ohne Bewegung war, sich bewegt hat. Wenn etwas .beginnt, so geschieht es; wenn etwas sich ändert, geschieht es; auch etwas, das endet, geschieht; wenn aber etwas immerzu gleichbleibt, sei es Im Stillstand oder in seiner Bewegung, wenn aber etwas weder von selber sich ändert noch von außen geändert wird, so wird mit ihm nichts geschehen; wenn etwas in der natürlichen Ordnung, die ihm gegeben ist, ablauft, ohne sich je zu verändern, so wird, mag es sich auch bewegen, mit ihm nichts geschehen. In dem Ausguß, aus dem es schon immer nach fauler Milch und nach fauligem Wasser stinkt, geschieht nichts und ist nichts geschehen, wohl aber in dem, der, als er sich vorbeugt, plötzlich daraus den Geruch in den Leib schluckt.  - Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977
 

 

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