Gerücht (2) Ich bin überzeugt, daß es ein Attentat war. Kaum war Durruti
tot, da verschwanden die wichtigsten Anführer des spanischen Anarchismus aus
Madrid. Das politische Klima veränderte sich über Nacht.
Viele Anarchisten
sahen sich plötzlich verfolgt, überflüssig zu sagen, von wem, von den Kommunisten
eben. Es war in diesen Nächten gefährlicher, in den Straßen von Madrid eine
Mitgliedskarte der CNT-FAI in der Tasche zu tragen als die einer Partei der
extremen Rechten. Martinez Fraíle
Einige Tage nach dem Debakel der Anarchisten am Garabitas-Hügel fiel Durruti
an der Front. Er wurde von hinten erschossen; man nahm allgemein an, daß ihn
seine eigenen Leute ermordet hätten, weil er für die aktive Teilnahme der Anarchisten
an der Kriegführung und für die Zusammenarbeit mit der Regierung Caballero eintrat.
Viele
Anarchisten waren damals in erster Linie daran interessiert, in Spanien eine
libertäre Ideal-Republik zu errichten; mit den Sozialisten, den Kommunisten
oder den bürgerlichen Republikanern hatten sie nichts im Sinn. Sie dachten nicht
daran, für die Regierung Caballero den Kopf hinzuhalten. Das war in ihren Augen
»nicht wichtig«. Louis Fischer
Durruti ist zweifellos einer Unbesonnenheit zum Opfer gefallen. Er kam am
Nachmittag an die Front im Universitätsviertel. Es herrschte dort völlige Ruhe.
Gerade deshalb war dies ein gefährlicher Moment, weil die Männer sich allzu
sorglos bewegten.
Sein großer Packard hatte nahe an der Kampflinie seiner
Leute gehalten. Gegenüber lag das Klinikum der Universität, ein großes, sechs-
oder siebenstöckiges Gebäude, von dem aus sich ein gutes Schußfeld bot. Der
Feind hielt die oberen, die Unseren die unteren Stockwerke besetzt.
Als der
Feind, der offenbar sehr wachsam war, einen knappen Kilometer entfernt das Auto
anhalten sah, wartete er ab, bis die Insassen ausgestiegen waren; als sie ohne
Deckung im Freien standen, gab er eine Maschinengewehrgarbe ab, die Durruti
tödlich und zwei seiner Begleiter weniger schwer verletzte. Ricardo
Sanz
Am folgenden Tag lief das Gerücht um, Durruti sei, als er eine panische Absetzbewegung
seiner Truppen aufhalten wollte, von einem seiner Männer ermordet worden. Als
sich die Todesnachricht kurz darauf bestätigte, verstärkten die Umstände, unter
denen er gestorben war, unseren Schmerz um den Verlust dieses tapferen Kämpfers
und Offiziers. Was seine Einheit betriffi, so ist es ihr nicht nur nicht gelungen,
den Feind aus seinen Stellungen zu werfen, sondern es war umgekehrt der Gegner,
der sie zurückschlug, Nach dem Tod Durrutis mußten diese Truppen sofort abgelöst
werden: Sie waren für die ganze Madrider Front eine wirkliche Gefahr. Enrique
Lister
Im Grunde sind wir auf Hypothesen angewiesen. Ich weiß nur, allerdings nicht
aus erster Hand, ein Bekannter hat mir das gesagt, allerdings einer, der sehr
gut unterrichtet war, ich weiß also nur, daß Auguste Lecœur, einer der wichtigsten
Männer der Kommunistischen Partei Frankreichs, er war bis zu seinem Ausschluß,
der Stalinfrage wegen, nach Thorez der zweite Mann in der Partei — daß also
dieser Lecœur, heute Antistalinist, seinen Freunden ganz offen gesagt hat, die
Kommunisten seien es gewesen: sie hätten Durruti umgebracht. Gaston
Leval
Augenzeuge: Wir waren in der Straße Miguel Angel Nummer 27
stationiert, dort war Durrutis Hauptquartier. Es war das Stadtpalais des Herzogs
von Sotomayor, dem Neffen des Königs Alfons XIII. Am Nachmittag, es war der
19. November, kam ein Melder von der Front. Das Klinikum war in die Hand des
Feindes gefallen. Wir stiegen sofort in den Wagen. Das war um vier Uhr nachmittags,
zehn vor oder zehn nach vier. Wir fuhren direkt zur Front, so nah wie möglich
an das Krankenhaus, um die Lage zu prüfen. Vom am Steuer saß der Chauffeur Julio,
neben ihm, wie immer, Durruti; er konnte den Rücksitz nicht leiden. Auf dem
Rücksitz saßen Manzana, Bonillo und ich.
Wir führen durch die Stadt und erreichten
den Moncloa-Platz über die Rosales-Promenade, gleich vor der Ecke der Straße
Andrés Beyano. Wir hörten die Kugeln pfeifen. Wir hielten an, es war nicht weiterzukommen.
Der Wagen bot ein zu gutes Ziel für die feindlichen Schützen. Also hielt Julio
an und stieg aus, um die Lage zu erkunden. Durruti will ihm folgen, er nimmt
sein Schnellfeuergewehr, einen Naranjero, macht die Tur auf und schlägt mit
dem Gewehr an das Trittbrett. Das Ding geht los, der Schuß trifft ihn mitten
in die Brust, ein glatter Durchschuß, aus. - Aus: Hans Magnus Enzensberger,
Der kurze Sommer der Anarchie. 1972
Gerücht (3)
Gerücht, ganz mit Zungen bemalt, tritt ein.
GERÜCHT
Die Ohren auf! Denn wer von
euch verstopft
Des Hörens Tor, wenn laut Gerüchte spricht?
Ich, von dem
Osten bis zum müden West
Rasch auf dem Winde reitend,
mache kund,
Was auf dem Erdenball begonnen wird.
Beständge Fälschung schwebt
auf meinen Zungen,
Die ich in jeder Sprache bringe vor,
Der Menschen Ohr
mit falscher Zeitung stopfend.
Von Frieden red ich, während unterm Lächeln
Der
Ruh versteckter Groll die Welt verwundet.
Und wer als nur Gerücht, als ich
allein,
Schafft drohnde Musterung, wache Gegenwehr,
Indes das Jahr, geschwellt
von anderm Leid,
Für schwanger gilt von dem Tyrannenkrieg?
Was doch nicht
ist! Gerücht ist eine Pfeife,
Die Argwohn, Eifersucht, Vermutung bläst,
Und
von so leichtem Griffe, daß sogar
Das Ungeheuer mit zahllosen Köpfen,
Die
immer streitge, wandelbare Menge
Drauf spielen
kann. Allein wozu zergliedre
Ich meinen wohlbekannten Körper so
Vor meinem
Hausstand? Was will hier Gerücht?
Vor König Heinrichs Siege lauf ich her,
Der
in dem blutgen Feld bei Shrewsbury
Den jungen Heißsporn und sein Heer geschlagen,
Löschend
die Flamme kühner Rebellion
In der Rebellen Blut. — Was fällt mir ein,
Sogleich
so wahr zu reden? Auszusprengen
Ist mein Geschäft, daß Heinrich Monmouth
fiel
Unter des edlen Heißsporn grimmgem Schwert,
Und daß der König vor
des Douglas Wut
Zum Tode sein gesalbtes Haupt gebeugt.
Dies hab ich durch
die Landstädt ausgebreitet,
Vom königlichen Feld zu Shrewsbury
Bis hier
zu dieser wurmbenagten Feste
Von rauhem Stein, wo Heißsporns alter Vater
Northumberland
aus List scheinkrank verweilt.
Die Boten kommen eilig angejagt,
Und keiner
meldet, als was ich gelehrt.
Schlimmer als wahres Übel ist erklungen
Falsch
süße Tröstung von Gerüchtes Zungen.
Ab.
- Shakespeare, König Heinrich IV., 2. Teil, Prolog
Gerücht (4)
Mitten im Erdkreis ist zwischen Land und Meer und des Himmels
|
- (
ov
)
Gerücht (5)
Grettir hatte immer Freude daran, wenn
er Darstellungen von Andren erfuhr, denn ihm konnten Meinungen über ihn nicht
falsch genug sein. Und doch erregte es ihn auch wieder in der Gesamtheit, daß
die Menschen soviel scharfumgrenzte, kleine Gemeinheiten zu erzählen für richtig
hielten. Es waren immer hart dargestellte kleine Bilder, die sich leicht kolportieren
ließen, und so kam Grettir zu der Einsicht, daß der Mensch, der dies alles war,
was man von ihm sagte, einmal untergehen müßte. So kam es zu der sonderbaren,
wenn auch nicht ganz ungewöhnlichen Tatsache, daß Grettir seinen Tod selbst
verkündete, um eben alle diese Gerüchte außer Kraft zu setzen. - Ernst Fuhrmann, Der Geächtete. Berlin 1983 (zuerst
1930)
Gerücht (6)
Die Gerüchte erinnern uns an etwas Selbstverständliches: Wir glauben nicht an
unsere Kenntnisse, weil sie wahr, begründet oder bewiesen wären. Bis zu einem
gewissen Grad verhält es sich umgekehrt: Unsere Kenntnisse sind wahr, weil wir
an sie glauben. Das Gerücht beweist noch einmal, falls das notwendig sein sollte,
daß alle Gewißheiten gesellschaftlich bedingt sind: Wahr ist, was die Gruppe,
zu der wir gehören, als wahr ansieht. Gesellschaftliches Wissen beruht auf Glauben
und nicht auf Beweisen. Das darf uns nicht erstaunen: Ist die Religion
nicht das schönste Beispiel für ein Gerücht? - Jean-Noël Kapferer,
Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Berlin 1997 (zuerst 1987)
Gerücht (7)
Als Eulenspiegel von Rom zurückreiste, kam
er in ein Dorf, in dem eine große Herberge war. Der Wirt war nicht zu Hause.
Da fragte Eulenspiegel die Wirtin, ob sie Eulenspiegel kenne. Die Wirtin antwortete:
»Nein, ich kenne ihn nicht. Aber ich habe von ihm gehört, daß er ein auserlesener
Schalk ist.« Eulenspiegel sprach: »Liebe Wirtin, warum sagt Ihr, daß er ein
Schalk ist, wenn Ihr ihn nicht kennt?« Die Frau sagte: »Was ist daran gelegen,
daß ich ihn nicht kenne? Das macht doch nichts; die Leute sagen eben, er sei
ein böser Schalk.« Eulenspiegel sprach: »Liebe Frau, hat er Euch je ein Leid
angetan? Wenn er ein Schalk ist, so wißt Ihr das nur vom Hörensagen; darum wißt
Ihr nichts Eigentliches von ihm zu sagen.« Die Frau sprach: »Ich sage es so,
wie ich es von den Leuten gehört habe, die bei mir aus- und eingehen.« Eulenspiegel
schwieg. Des Morgens stand er ganz früh auf und scharrte die heiße Asche auseinander.
Dann ging er zum Bett der Wirtin und nahm sie aus dem Schlaf. Er setzte sie
mit dem bloßen Arsch auf die heiße Asche, verbrannte
ihr den Arsch gar sehr und sprach: »Seht, Wirtin, nun könnt Ihr von Eulenspiegel
sagen, daß er ein Schalk ist. Ihr empfindet es jetzt, und Ihr habt ihn gesehen.
Hieran mögt Ihr ihn erkennen.« - (
eul
)
Gerücht (8)
In den Arbeitervierteln und den besetzten Betrieben verbreitete sich ein
Gerücht: General Carlos Prats, der dem Präsidenten Allende treu geblieben war,
werde mit seinen Truppen aus dem Süden anrücken. Angeblich hatte man diese Nachricht
in einem argentinischen Kurzwellenprogramm gehört. Die unmittelbare Wirkung
des Gerüchts war, daß alle auf Prats warteten.
Wie in Waterloo, wo die Franzosen vergebens auf Marschall Grouchy warteten ...
Tatsächlich befand sich Carlos Prats in Santiago und stand unter Hausarrest.
Da das Gerücht jedoch einer ausländischen, also glaubwürdigen Rundfunkstation
zugeschrieben wurde, hielt es sich drei Tage. Unter solchen Umständen ist das
mehr als genug, um die Niederlage einer Revolution zu bewirken. - Jean-Noël Kapferer, Gerüchte. Das älteste Massenmedium
der Welt. Berlin 1997
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