Genie (2) »Wirklich große Verbrecher
werden niemals ermittelt, aus dem einfachen Grunde, weil die größten Verbrechen
— ihre Verbrechen — niemals entdeckt werden«, bemerkte Professor
Augustus S. F. X. van Dusen mit Bestimmtheit. »Die Verübung von Verbrechen
hat etwas Geniales, Mr. Grayson, ebenso wie es ihre Aufklärung haben muß, es
sei denn, es handelt sich um das oberflächliche Werk eines Stümpers. In diesem
letzteren Falle hat es Momente gegeben, wo selbst die Polizei
die Wahrheit aufgedeckt hat. Aber der erfahrene
Verbrecher, der Mann von Genie — der Professionelle,
möchte ich sagen — betrachtet nur das Verbrechen als perfekt,
das sich weder als Verbrechen darstellt, noch als solches hingestellt werden
kann; deshalb kann man ihn oder sonst jemand nie belangen.« - Aus: Jacques
Futrelle
,
Der Überflüssige Finger und andere große Fälle der
Denkmaschine
(Siegen 1967,
zuerst 1906-1908)
Genie (3) Hagbard Celine, ein wahnsinniger Genius, höchst qualifiziert, eine ganze Reihe verschiedenster Tätigkeiten innerhalb von Rechtswissenschaft und Ingenieurwesen auszuüben, entschied sich statt dessen für Piraterie und versucht, der Welt ersten selbstdestruktiven Mynah-Vogel auszubilden.
«Komm, kitty-kitty-kitty! Komm, kitty-kitty-kitty!» kann man Hagbard rufen hören, als unsere Kamera in ein Close-Up seines dunklen sizilianischen Gesichts schwenkt. (In Wirklichkeit ist er halb Norweger, und es gibt irgendwo in Ohio einen Zweig seiner Familie mit irischen Namen, wie McGee und Marlowe.) Indem die Kamera zurückfährt, sehen wir Hagbard zwischen zwei Reihen von Mynah-Vögeln stehen, von denen jeder einzelne auf einem Miniatur-Zitronenbäumchen thront. «Komm, kitty-kitty-kitty! Komm, kitty-kitty-kit-ty!» wiederholen die Vögel roboterhaft und werden damit auf Selbstzerstörung programmiert sein, wenn er sie in New York City losläßt.
«So wahr mir Gott helfe», kann man Epicene Wildeblood (New Yorks bissigsten
Literaturkritiker) zu einer Gruppe im Confrontation-Büro
versammelter Skeptiker sagen hören. «Diese verfluchten
Vögel begingen Selbstmord. Ich sitze da am Washington
Square und höre ihn krächzen ‹Komm, kitty-kitty-kitty!› Genau so. ‹Komm, kitty-kitty-kitty!›
Es war 'ne ziemlich große siamesische Katze, die ihn
erwischte, aber zu dem Zeitpunkt befanden sich bereits alle Katzen aus der ganzen
Nachbarschaft auf der Jagd. Ich sage Ihnen, diese
Stadt ist am Ende, wenn jetzt sogar schon die Vögel zu depressiven Psychotikern
werden.» - (
ill2
)
Genie (4) Champollion war noch keine
dreißig, doch die Hieroglyphenforschung fesselte ihn schon fast zwei Jahrzehnte.
Seine Leidenschaft war im Jahr 1800 entflammt, als der französische Mathematiker
Jean-Baptiste Fourier, vormals einer der »Pekinesen« im Gefolge Napoleons,
den zehnjährigen Jean-Francois in seine Sammlung ägyptischer Altertümer einweihte,
von denen viele mit merkwürdigen Inschriften geschmückt waren. Niemand könne
diese geheimnisvolle Schrift lesen, erklärte Fourier,
woraufhin der Junge versicherte, eines Tages werde er das Mysterium lösen. Nur
sieben Jahre später, mit siebzehn, legte er einen Aufsatz mit dem Titel »Ägypten
unter den Pharaonen« vor. Es war eine bahnbrechende Arbeit, und Champollion
wurde flugs in die Grenobler Akademie gewählt. Die Nachricht, daß er in seinen
jungen Jahren schon Professor geworden war, überwältigt
ihn dermaßen, daß er auf der Stelle in Ohnmacht fiel. - (
krypt
)
Genie (5) Leider soffen sie: Opium: De Quincey, Coleridge, Poe. Absinth: Musset, Wilde. Äther: Maupassant (außer Alkohol und Opium), Jean Lorram. Haschisch: Baudelaire, Gautier. Alkohol: Alexander (der im Rausch seinen besten Freund und Mentor tötete und der an den Folgen schwerster Exzesse starb), Sokrates, Seneca, Alkibiades, Cato, Septimius Severus (starb im Rausch), Cäsar, Muhamed II., der Große (starb im Delirium tremens), Steen, Rembrandt, Carracci, Barbatello Poccetti, Li-T'ai-po („der große Dichter, welcher trinkt" starb durch Alkohol), Burns, Gluck (Wein, Branntwein, starb an Alkoholvergiftung), der Dichter Schubart, Schubert (trank seit dem fünfzehnten Jahr), Nerval, Tasso, Händel, Dussek, G. Keller, Hoffmann, Poe, Musset, Verlaine, Lamb, Murger, Grabbe, Lenz, Jean Paul, Reuter (Dipsomane, Quartalssäufer), Scheffel, Liliencron, Reger, Hartleben, Löns, Beethoven (starb bekanntlich an alkoholischer Leberzirrhose) - zitiert nach Lange-Eichbaum: Genie, Irrsinn, Ruhm.
Es starben an arteriosklerotischer Verblödung: Kant, Stendhal, Faraday, Linné, G. Keller, Böcklin. Litten an Epilepsie: van Gogh, Platen, Flaubert, Dostojewski. Hatten klinisch manifeste Schizophrenien: Hölderlin, van Gogh, Tasso, Newton, Strindberg, Panizza. Starben an Paralyse: Manet, Makart, Maupassant, Nietzsche, Lenau, Hugo Wolf, Baudelaire, Donizetti, Jules de Goncourt, Lautensack. Waren ihr Leben lang asexuell: Newton, Kant, Menzel (die berühmte Stelle aus seinem Testament: „Gleicherweise kann niemand auftauchen, irgendwelche Namensrechte geltend zu machen. Nicht allein, daß ich ehelos geblieben bin, habe ich auch lebenslang mich jederlei Beziehung zum anderen Geschlecht als solchem entschlagen. Kurz, es fehlt an jedem selbstgeschaffenen Klebestoff zwischen mir und der Außenwelt") - wo immer also man hinsieht: das Produktive einer Masse durchsetzt von Psychopathien, Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen, Impotenzen - gibt es überhaupt ein gesundes Genie?
Ja. Es gibt eine durch die enormste geistige Gewalt lebenslänglich kompensierte
Antinomie, es gibt die immer wieder durch spirituelle Leistungen gelöschte primäre
Dyshormonie, Goethe ist der Fall dafür, auch Schiller,
ähnlich Leibniz. Es ist überhaupt nicht so, daß psychopathologische Züge an
sich irgend etwas mit Genie zu tun hätten. Im Gegenteil, die Masse der Geisteskranken
und Psychopathen sind Minusvarianten sowohl im Sinne ihrer Intelligenz wie ihres
soziologischen Wertes. Ja, Kretschmer, wohl der bedeutendste Spezialforscher
dieses Gebiets, geht so weit, zu sagen, ein kräftiges Stück Gesundheit und Spießbürgertum
gehöre zum ganz großen Genie meist mit hinzu. - Gottfried
Benn
,
Genie und Gesundheit (1930)
Genie (6) Das Genie ist ein Neuerer, der in seinem Neuerertum steckengeblieben ist, denn sein Geist hat sich zu einem Schlüssel geformt, der bislang verschlossene Dinge öffnet. Weil man mit einem neuen Schlüssel, wenn er nur hinreichend universal ist, viele Schlösser öffnen kann, erscheint euch das Genie als universal. Die Fruchtbarkeit des Genies hängt jedoch weniger davon ab, was für einen Schlüssel es beigesteuert hat, sondern vielmehr von den bislang vor euch verschlossenen Dingen, zu denen dieser Schlüssel paßt.
Wenn ich in die Rolle des Spötters schlüpfe,
könnte ich sagen, daß auch die Philosophen sich mit Schlüsseln und Schlössern
befassen, aber in der Weise, daß sie die Schlösser zu den Schlüsseln anfertigen,
denn sie erschließen nicht die Welt, sondern postulieren eine solche, die sich
mit ihrem Schlüssel öffnen läßt. Daher sind denn auch ihre Irrtümer am aufschlußreichsten.
Es war wohl ein gewisser Schopenhauer, der dem Kalkül der Evolution
auf die Spur kam, das in der Regel vae victis! besteht; in diesem Kalkül,
das er Wille nannte, sah er jedoch das Übel schlechthin
und stopfte die ganze Welt samt den Sternen damit aus. Er sah nicht, daß der
Wille eine Wahl voraussetzt; hätte er das begriffen, so hätte er die Ethik jener
Prozesse verstanden, aus denen die Arten entstanden sind und damit auch die
Antinomien eurer Erkenntnis; er wies jedoch Darwin zurück, denn behext von der
düsteren Majestät des metaphysischen Übels, das ihm eher mit dem Zeitgeist in
Einklang zu stehen schien, griff er nach einer allzu weitgehenden Verallgemeinerung
und vermengte Himmels- und Tierkörper in einem. Es ist natürlich immer leichter,
ein gedachtes Schloß zu öffnen als ein wirkliches, aber andererseits ist es
auch leichter, ein wirkliches Schloß zu öffnen als es zu finden, wenn noch keiner
etwas von ihm weiß.
- Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1986 (st 1266, zuerst 1973,
1981)
Genie (7) Intensife Genieen, die auf Einen Punkt mächtig wirken, sind stärker geknocht, haben festeres Fleisch, sind schwerer und einfacher in ihren Bewegungen, haben festere Stirnknoten, und perpendikulärere Stirnen, als -
Extensife Genieen, die auf weiten Umfang wirken. Diese sind zarter, länglichter, luftiger, lockerer gebildet, haben zurückgehende Stirnen u. s. f.
Alle Genieen des Sehens, Empfindens, Handelns, alle Genieen in der Welt, glaube ich, lassen sich überhaupt unter drey Klassen bringen - Genieen des Details; Genieen fürs Ganze; Genieen für beydes.
1) Inspirationsähnlicher Sinn, unnachahmliche Kraft fürs Kleine, Abgesonderte - Genie fürs Detail - gemeiniglich Künstlergenie genannt; - (Hamiltons Papilion und Eydexe - und Tenners Köpfe machen es kennbar,) hat seinen Adelsbrief im Scharfblick - größtentheils in dem hineingeschobenen obern Augenlied und der Intension eines unanziehenden - ausflußlosen, nur einem Raubvogel gleich herausholenden Blickes, und kleinlichen, scharfgezeichneten Gesichtszügen - Sehet Augspurger und Nürnberger Mahler und Künstler die Menge.
2) Inspirationsähnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft für ganze Felder, ganze Tableaux, ganze Massen - Genie fürs Große - mit Vorbeygehung, Verachtung des kleinen Details - hat sein Zeichen in größern Gesichtstheilen, und weniger kleinlichen Zügen - wie Rubens - Vandyk.
3) Inspirationsähnlicher Sinn und unnachahmliche Kraft fürs Große und Kleine
zugleich - Ganzer Natursinn, denn die Natur schafft den ganzen herrlichen
Baum, und bildet jedes Blatt aufs fleißigste, besinnteste
aus - die Natur ist frey ohne Zügellosigkeit, und bestimmt ohne Härte - dieß
allein reine, allein ächte Genie - wo ist's? wo sind erläuternde Beyspiele?
- In der Künstler-Dichter-Philosophen-Heldenwelt?
- Wo Umfasser des Ganzen, und Entzieferer jeder Einzelnheit? Wo? daß ich ihre
Züge bezeichnen, und sie auf den ersten Blick kennbar machen könne? - Ich kenne
nur zwey, die ich nicht nennen, und deren Köpfe ich nicht hersetzen und sie
von dieser Seite kommentiren mag - weil sie meine Freunde sind, und weil ich
mein Werk nicht weiter (wie einer von ihnen sagte) zu einer Schädelstätte meiner
Freunde machen darf. - So viel aber kann ich sagen - im Ganzen, im Ganzen ihrer
Gestalt, ihrer Farbe, ihrer Bewegungen, ihres Ganges u. s. f. in allen Theilen,
allen Zügen, allen Nuancen muß sich dieß ausdrücken. Nicht hier und dort, nicht
dann und wann nur Ein Zug! Ein Blick! Ein Ton! Ein Tritt! - Alles ist Harmonie!
Leben Alles! Alles Ein Leben! dasselbe belebende Leben! - Ihre Gestalt ist fest
und schnellbeweglich zugleich; ihr Blick weit umsehend und schneidend! Immer
Mikroskop oder Telescop - nach Belieben - divergierend und konvergierend! langsam
und schnell! Ihre Farbe gelblicht blaß oder violetröthlicht! Niemals weißlicht;
milchigt; niemals hochroth; oft sich wandelnd und - wendend! Ihr Gang ist leicht
und fest - schwebend und auftretend - sie fliegen und wurzeln
sich! treten unhörbar und stampfen u. s. f. - (lav)
Genie (8) Wenn wir nun endlich noch das
Genie von der somatischen Seite betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische
und physiologische Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten vollkommen vorhanden,
noch seltener vollständig beisammen, dennoch alle unerläßlich erfordert sind;
so daß daraus erklärlich wird, warum das Genie nur als eine völlig vereinzelte,
fast portentose [unnatürliche] Ausnahme vorkommt. Die Grundbedingung ist ein
abnormes üeberwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft,
und zwar, was die Sache erschwert, auf einem männlichen Körper. (Weiber
können bedeutendes Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.)
Imgleichen muß das Cerebralsystem vom Gangliensystem durch vollkommene Isolation
rein geschieden seyn, so daß es mit diesem in vollkommenem Gegensatz stehe,
wodurch das Gehirn sein Parasitenleben
auf dem Organismus recht entschieden, abgesondert, kräftig und unabhängig führt.
Freilich wird es dadurch leicht feindlich auf den übrigen Organismus wirken
und, durch sein erhöhtes Leben und rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben,
wenn nicht auch er selbst von energischer Lebenskraft und wohl konstituirt ist:
auch dieses Letztere also gehört zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen
gehört dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus dieses Theiles mit dem
Gehirn. - (
wv
)
Genie (9) Auf den oft und matt besungenen Sudeten, der Schlesier Parnaß, hauset in friedlicher Eintracht neben dem Apoll und den neun Musen der berufene Berggeist Rübezahl genannt, der das Riesengebürge traun berühmter gemacht hat, als die schlesischen Dichter allzumal. Dieser Fürst der Gnomen besitzt zwar auf der Oberfläche der Erde nur ein kleines Gebiet, von wenig Meilen im Umfang, mit einer Kette von Bergen umschlossen, und teilt dies Eigentum noch mit zwei mächtigen Monarchen, die sein Kondominium nicht einmal anerkennen. Aber wenige Lachter unter der urbaren Erdrinde hebt seine Alleinherrschaft an, die kein Partagetraktat zu schmälern vermag, und erstreckt sich auf achthundertsechzig Meilen in die Tiefe, bis zum Mittelpunkt der Erde. Zuweilen gefällt es dem unterirdischen Starosten seine weitgedehnten Provinzen in dem Abgrunde zu durchkreuzen, die unerschöpflichen Schatzkammern edler Fälle und Flöze zu beschauen, die Knappschaft der Gnomen zu mustern und in Arbeit zu setzen, teils um die Gewalt der Feuerströme im Eingeweide der Erde durch feste Dämme aufzuhalten, teils mineralische Dämpfe zu fahen, mit reichhaltigen Schwaden taubes Gestein zu beschwängern und es in edles Erz zu verwandeln. Zuweilen entschlägt er sich aller unterirdischen Regierungssorgen, erhebt sich zur Erholung auf die Grenzfeste seines Gebietes und hat sein Wesen auf dem Riesengebürge, treibt da Spiel und Spott mit den Menschenkindern, wie ein froher Übermütler, der um einmal zu lachen seinen Nachbar zu Tode kützelt.
Denn Freund Rübezahl sollt ihr wissen, ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zu Zeiten gutmütig, edel, und empfindsam; aber mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern und weise, oft weich und hart in zween Augenblicken, wie ein Ei, das in siedend Wasser fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und beugsam; nach der Stimmung, wie ihn Humor und innrer Drang beim ersten Anblick jedes Ding ergreifen läßt.
Von Olims Zeiten her, ehe noch Japhets Nachkömmlinge so weit nordwärts gedrungen
waren, daß sie diese Gegenden wirtbar machten, tosete Rübezahl schon in dem
wilden Gebürge, hetzte Bären
und Aurochsen aneinander, daß sie zusammen kämpften, oder scheuchte mit grausendem
Getöse das scheue Wild vor sich her, und stürzt es von den steilen Felsenklippen
hinab ins tiefe Tal. Dieser Jagden müde, zog er wieder seine Ehrichsstraße durch
die Regionen der Unterwelt, und weilte da Jahrhunderte, bis ihm von neuem die
Lust anwandelte, sich an die Sonne zu legen, und des Anblicks der äußern Schöpfung
zu genießen. - Johann Karl August Musäus, Volksmärchen der Deutschen.
München 1976 (zuerst 1782-86)
Genie (10) Wenn Sie Moriarty einen Verbrecher
nennen, sprechen Sie in den Augen der Justiz eine Verleumdung aus, und da liegen
Glanz und Gloria der Sache. Der größte Ränkeschmied aller Zeiten, der Organisator
jedweder Teufelei, das Zentralgehirn der Unterwelt — ein Gehirn,
das die Geschicke ganzer Nationen im Guten wie im Schlechten lenken könnte:
das ist unser Mann. Aber er ist über jeden gemeinen Verdacht
so erhaben - so gefeit gegen jede Kritik - und so bewundernswert in seiner Fähigkeit,
die Fäden in der Hand und sich selbst im Hintergrund zu halten, daß er Sie schon
für die Worte, die Sie eben geäußert haben, vor Gericht zerren könnte und Ihre
Jahresrente als Schmerzensgeld für seine verletzte Ehre einstriche. Immerhin
ist er der gepriesene Verfasser von Dynamik eines Asteroiden — einem
Buch, das solch luftige Höhen der reinen Mathematik erklimmt, daß man behauptet,
es habe sich in der gesamten Fachpresse kein Kopf gefunden, der imstande wäre,
das Werk zu rezensieren. - Sir Arthur Conan Doyle, Das Tal der Angst.
Zürich 1986 (Haffmans Taschenbücher 60, zuerst 1915)
Genie (11) Sie glauben auch die Eigenschaften
der Originale zu haben, wenn sie den Kopf schief halten wie Alexander,
in den Haaren nisteln wie Cäsar, den Hut setzen wie Friedrich, die Hände reiben
wie Joseph oder an den Nägeln kauen wie Bonaparte,
wenn sie rauchen wie Klopstock, Kaffee nehmen wie
Leibniz, Essen und Trinken vergessen am Schreibstuhl wie Newton,
alle Reinlichkeit vernachlässigen wie Kant
und den Hosenlatz offen hängen lassen wie Cervantes.
Der Triumph des Anstandes unserer jungen Incroyables war: die eine Hand wühlend
im zottigen Tituskopfe, um den Hahnenkamm in die Höhe zu zupfen, und die andere
oder gar beide Hände im Hosenlatze, und diese liebliche Mode muß schon zu Rochesters
Zeiten gewesen sein, der einen die Hand in den Hosen habenden Lord, welcher
mit der anderen eine Bill zum Besten armer Witwen überreichte: „Hier bringe
ich etwas für arme Witwen", fragte: „Mylord, in welcher Hand?" - Diese
Genies gleichen der Gans, die sich rühmt, laufen, fliegen
und schwimmen zu können. Aber wie! - (
kjw
)
Genie (12) Der eigentliche, simple
Gelehrte, etwan der Göttingische Ordinarius, sieht
das Genie an ungefähr wie wir den Hasen, als welcher
erst nach seinem Tode genießbar und der Zurichtung fähig wird; auf den man daher,
so lange er lebt, bloß schießen muß. -
(schop)
Genie (13)
Genie (14) Eine Tür tut sich
auf und Grover Watrous tritt ein. «Der Herr sei mit euch!» sagt er und zieht
seinen Klumpfuß nach. Er ist nun zu einem jungen
Mann herangewachsen und hat Gott gefunden. Es gibt nur einen Gott - und Grover
Watrous hat Ihn gefunden, und somit gibt es nichts mehr zu sagen, nur daß alles
noch einmal in Grover Watrous' neuer Gottessprache gesagt werden muß. Diese
brandneue Sprache, die Gott eigens für Grover Watrous erfunden hat, interessiert
mich enorm, erstens, weil ich Grover immer für einen hoffnungslosen Dummkopf
gehalten habe, zweitens, weil ich bemerke, daß an seinen flinken Fingern keine
Nikotinflecke mehr zu sehen sind. Als wir Kinder waren, wohnte Grover Tür an
Tür mit uns. Er besuchte mich von Zeit zu Zeit, um mit mir vierhändig zu spielen.
Obwohl er erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, rauchte er wie ein Schlot.
Seine Mutter konnte nichts dagegen machen, denn Grover war ein Genie, und einem
Genie mußte man ein wenig Freiheit lassen, besonders wenn es noch dazu das Unglück
hatte, mit einem Klumpfuß geboren worden zu sein. Grover gehörte zu der Sorte
von Genies, die im Dreck gedeihen. Er hatte nicht nur Nikotinflecke an den Fingern,
sondern schmutzige, schwarze Fingernägel, die beim stundenlangen Üben abbrachen
und so dem jungen Grover die reizende Pflicht auferlegten, sie mit den Zähnen
abzuknabbern. Grover spuckte daher dauernd abgebrochene Nägel zusammen mit Tabakkrümchen
aus, die ihm zwischen den Zähnen steckten. Das war köstlich und äußerst anregend!
Die Zigaretten brannten Löcher ins Klavier und machten, wie meine Mutter mißbilligend
feststellte, auch die Tasten blind. Wenn Grover gegangen war, stank der Salon
wie das Hinterzimmer eines Begräbnisinstituts. Es stank nach Zigarettenstummeln,
Schweiß, unsauberer Wäsche, Grovers Flüchen und der trockenen Luft, die die
sterbenden Töne von Weber, Berlioz, Liszt und Co. hinterlassen hatten. Es stank
auch nach Grovers eiterndem Ohr und seinen fauligen Zähnen. Es stank nach der
Verwöhnung und dem Gejammer seiner Mutter. Sein Zuhause war ein Stall, der aufs
göttlichste zu seinem Genie paßte, aber unser Salon war wie das Wartezimmer
eines Leichenbestatters, und Grover war ein Lümmel, der nicht einmal genügend
Anstand besaß, sich die Schuhe abzustreifen. Im Winter lief seine Nase wie eine
Regenrinne, und da Grover zu sehr in seine Musik versunken war, um sich die
Nase zu putzen, tropfte der kalte Rotz herunter, bis er seine Lippen erreichte,
wo er mit einer sehr langen, weißen Zunge eingeschlabbert wurde. Er fügte den
musikalischen Blähungen von Weber, Berlioz, Liszt und Co. eine pikante Sauce
hinzu, die diese leeren Teufel genießbar machte. Jedes zweite Wort von Grovers
Lippen war ein Fluch, sein Lieblingsausspruch war: «Ich kriege das Scheißding
nicht hin!» Manchmal wurde er so wütend, daß er wie ein Verrückter aufs Klavier
einhieb. Sein Genie kam verkehrtrum heraus. -
(wendek)
Genie (15) Man ha! es selber empfunden,
wenn man irgendeine neue Idee in die große passive Vulva Londons einrammte,
eine Erregung analog der männlichen Erregung bei
der Kopulation, Und das Denken des Genies ist ganz offensichtlich, in
seiner Weise dasselbe, nämlich ein jäher Erguß der Intelligenz, der die Form
annimmt, die das Problem verlangt. - Ezra Pound, nach
(enc)