elesenwerden
Aber auch du, Leser, bist unterdessen
ein Leseobjekt für die Leserin:
Bald überfliegt sie deinen Körper wie ein Inhaltsverzeichnis, bald schaut sie
irgendwo nach wie erfaßt von einer plötzlichen und präzisen Wißbegier, bald
hält sie forschend inne und wartet, daß ihr eine stumme Antwort gegeben werde,
als interessiere sie jede Teilbesichtigung nur im Hinblick auf eine weiträumigere
Erkundung. Bald verweilt sie auf unbedeutenden Einzelheiten, womöglich auf kleinen
Stilfehlern wie zum Beispiel deinem vorspringenden Adamsapfel oder der Art,
wie du deinen Kopf in ihre Halsbeuge schmiegst, und bedient sich ihrer, um einen
gewissen Abstand zu gewinnen, sei's für einen kritischen Vorbehalt oder für
eine scherzhafte Vertraulichkeit. Bald wird eine plötzlich entdeckte Einzelheit
unmäßig aufgewertet, etwa die Form deines Kinns oder deine spezielle Art, ihr
in die Schulter zu beißen, und durch diesen Anlauf gerät sie in Fahrt, und dann
liest sie (lest ihr gemeinsam) Seite um Seite von oben bis unten, ohne ein Komma
zu überspringen ... Doch in deine Befriedigung über die Art, wie sie dich liest,
über ihre wortwörtlichen Zitate deiner physischen Gegenständlichkeit, schleicht
sich ein Zweifel ein: daß sie dich womöglich nicht ganz und ungeteilt liest,
wie du bist, sondern dich nur benutzt, ja nur aus dem Kontext gelöste Teile
von dir benutzt, um sich im Halbdunkel ihres getrübten Bewußtseins einen Phantompartner
aufzubauen, den nur sie kennt, und daß sie jetzt diesen apokryphen Besucher
ihrer Träume entziffert, nicht dich. - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
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