Feldzählen  Der Unbekannte schien mit jeder Minute vorsichtiger zu werden. Er gelangte rasch bis bis zur Tür des Wagens, in dem der junge Norbert du Rand sass ... Die Tür war offen und zeichnete auf dem Boden des Gangs ein helles Viereck...

- Donnerwetter, Glück über Glück! murmelte der Maskierte ...

Mit einem Satz von unglaublicher Geschwindigkeit und als ob er seiner Sache ganz sicher wäre und schon wüsste, wen er im Abteil vorfinden würde, sprang er vor...

Dann spielte sich im Handumdrehen etwas ganz Grausiges, überaus Tragisches und Bestürzendes ab ...

In dem Moment, als der Unbekannte ins Abteil sprang, kniete Norbert, fast mit dem Rücken zum Gang, vor seinen Geldscheinen und zählte und zählte ... Er sah und hörte nichts anderes und dachte nur an seinen unverhofften Gewinn, als er fühlte, wie ihn jemand mit eisernem Griff im Nacken packte, mit Gewalt auf die Sitzbank warf und seinen Kopf so tief in die Polster drückte, dass er fast erstickte ...

Er hatte nicht einmal Zeit, einen Schrei von sich zu geben!

Während er, zu Tode erschrocken und nach Atem ringend, nicht den geringsten Widerstand leistete, da er durch die Überrumpelung wie gelähmt war, hörte er wie im Traum eine spöttische Stimme, die witzelte:

- Jetzt heisst es, geschickt zu Werke gehen, damit der Wagen nicht schmutzig wird und keine Spuren zurückbleiben!... Ei, ei, der Grünschnabel glaubte wohl, dass er das ganze Geld ruhig einstecken könnte? Was für ein Kindskopf! ... Wie kann man nur so unvernünftig sein!...

Während der Mann so sprach, hielt er Norbert immer noch fest gegen das Polster gedrückt.

Er hatte unterdessen einen langen Dolch aus der Tasche gezogen, dessen Klinge im Lichtschein feurig funkelte, und mit langsamer, präziser Geste stiess er dem jungen Mann die Waffe in Höhe der Halswirbel zwischen die Schultern.

- Gott hab ihn selig!

Ohne sichtliche Mühe oder Hast und ohne ein Zittern stiess der unheilvolle schwarz Maskierte, der Mann mit dem dichten Bart, seinen Dolch bis zum Stichblatt in den Körper des Opfers und sagte noch einmal:

- Gott hab ihn selig! Denn ich glaube, dass ... Weiter brauchte er gar nicht zu denken ...

Der halb erstickte, tödlich verletzte, womöglich schon tote Körper von Norbert du Rand, der anfangs noch nervös gezuckt hatte, lag jetzt kraftlos da...

Die Waffe war in der Wunde steckengeblieben. Kein Tropfen Blut war geflossen, kein Schrei laut geworden ...     •"

Der Mann mit der Maske bemerkte nur kurz:

- Alles geht nach Wunsch ... Ich sehe keinen Grund, die Leiche noch länger hierzuhalten ...

Vorsichtig, aber ohne eine Spur von Gefühl, als ob es kein Toter wäre, den er da zwischen seinen Händen hatte, lockerte der Unbekannte nach und nach den Griff, mit dem er Norberts Kopf gegen das Sitzpolster presste ...

Mit der rechten Hand hatte er einen langen Seidenschal aus der Tasche gezogen und schob ihn nun unter den Kopf des Opfers ... so konnte er es knebeln ...

- Und jetzt, erklärte der schreckliche, meisterhafte Bösewicht, jetzt brauche ich nur noch etwas aufzuräumen hier ...

Aufräumen!

Während in dem blutleeren Gesicht des unglücklichen Norbert, in seiner fahlen, von schrecklichen Zuckungen verzerrten Grimasse die Augen immer grösser wurden und schon den schrecklich starren, nicht mehr menschlichen Ausdruck eines Sterbenden annahmen, der dem Tod ins Antlitz blickt, ging der Maskierte ganz gemächlich zum Ausgang des Abteils ...

Er öffnete die Tür, kehrte seelenruhig zu dem zuckenden Körper seines Opfers zurück, lockerte die verkrampften Hände Finger für Finger und zwang ihn so, die Banknoten, die er noch festhielt, loszulassen, wobei er scherzhaft bemerkte:

- Bei Gott, mein junger Freund, Sie werden die blauen Scheine nicht mehr brauchen, die ich so liebe und so dringend nötig habe ... zumindest eben so nötig wie Sie! ...

Den Spott konnte er sich sparen!

Norberts Augen hatten sich plötzlich geschlossen, sein verzerrtes Gesicht entspannte sich, er verlor das Bewusstsem.

- Eins! Zwei! Drei!...

Mit einem Ruck packte der elende Kerl den Körper seines Opfers bei den Schultern, wobei er acht gab, nicht an den Dolch zu stossen, der noch in der abscheulichen Wunde steckte und verhinderte, dass Blut hervorquoll, und wie ein Mann, der unter einer schweren Last keucht, schleppte er den leblosen Körper zur offenen Tür und stiess ihn hinaus auf die Gleise ...

Der Zug sauste durch die Landschaft...

Keiner von den Fahrgästen hatte den Aufprall vernommen ...

Schweigend, ohne die geringste Hast, sammelte der Unbekannte die Geldscheine auf, die über den Wagen verstreut lagen, steckte sie zusammen und schob sie in die Tasche; dann zog er die schwarze Maske vom Gesicht und kehrte mit nachtwandlerischer Sicherheit wieder in den Wagen zurück, in den er am Bahnhof von Monaco eingestiegen war.

Kein Mensch im Zug hätte beim Anblick des friedlichen Reisenden auch nur den geringsten Verdacht geschöpft, er war ja die Ruhe und Gelassenheit selbst...    - Pierre Souvestre, Marcel Allain: Fantômas - Mord in Monte Carlo. Berlin 1986 (zuerst 1911)

 

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