eistesleben Will
man die ganze Ausschußware der Schöpfung, den ganzen Markt der Eitelkeit und
Verantwortungslosigkeit, alles Maul- und Faustheldentum der Völker sehn, so
blicke man auf die jeweils öffentlichste Instanz: Parlamente, Presse, Kirche,
Universität, Vereinswesen usw.; je breiter, je aktueller ihre Wirkung ist, um
so gemeiner wird auch die von ihr hochgetragene und verbreitete Geistesart.
Ja man kann Parlamentarismus, Klubbismus, Journalismus, Publizismus usw. wohl
als notwendige Ventile der menschlichen Böswilligkeit und Borniertheit auffassen,
Ventile, die man darum offenhalten muß, damit die allgemeinsten Instinkte wie
Neidhaß, Ehrgeiz, Machtwille, Unzufriedenheit (die selben, die in Kriegszeit
wider den äußeren ›Feind‹ sich kehren), im sogenannten Geistesleben ihren möglichst
friedfertig-unschädlichen Abfluß gewinnen. -
Theodor Lessing, Psychologie der Politik, nach: Tintenfass 4, Zürich 1981
Geistesleben (2) Leider
könne er Nietzsche hier kaum anbieten, hier sei man noch auf dem
Soziologietrip. Vokabular statt Sprache. In Europa werde Nietzsche jetzt
zuviel zitiert,
weil er in den zwanzig Jahren davor zuwenig zitiert worden sei. Mehr ist
es ja nicht, das Geistesleben, als Zuviel- und Zuwenigzitieren und
Zitiertwerden. In Berlin sei neulich ein Kollege, während er Nietzsche
zitierte, tot umgefallen. Ungefährlich sei es zum Glück nicht, das
Geistesleben. Für Verheiratete sollte man es sowieso sperren. Ein
verheirateter Philosoph, das ist so was wie der. Er zeigte auf den
stummen P in seinem Käfig. Besonders gespannt sei er auf Halms
Heine-Vortrag, er werde Halm mit dem Nietzsche-Aufsatz auch sein kleines
Büchel Über konservativen Unmut bei Heine ins Fach legen. Ob
Rainer Gebrauch gemacht habe von Austers Hinweis? Rainer ließ seine
Lippe so weit weghängen wie nie zuvor; man sah die Flüssigkeit stehen
wie in einer halbvollen Dachrinne. Er wußte offenbar nicht, wonach er
gefragt wurde. Auster schüttelte den Kopf, sagte aber im gütigsten Ton,
er habe ihm doch seinen Schubert-Aufsatz geschickt: Das philosophische Lied oder Was wußte Schubert von Schopenhauer?
Rainer sagte: You write damn much. Publish or perish, sagte Auster, und
zu Halm: Wissen Sie, mein Ehrgeiz ist es, von Literaturwissenschaftlern
zitiert zu werden. Philosophen, auf die pfeif ich. Ich sollte auf alles
pfeifen, ich weiß. Besondersauf das Zitiertwerden. Aber lieber als aufs
Zitiertwerden pfeif ich aufs Pfeifen! Mein Transzendcntalpfiff! Höchst
hörenswert! Oh, Leslie..., entschuldigen Sie mich, ich seh Leslie
Ackerman, ich muß ihm eine Freude machen, ich hab seinen
Dekadenz-Aufsatz zitiert im Quarterly, das muß ich ihm sagen, inzwischen lösen Sie die absolute Preisfrage: Was macht beliebter, Zitieren oder Zitiertwerden?
- Martin Walser, Brandung. Frankfurt am Main 1987
|
||
|
||