Geisterweg   «Steig ein, Brock.»

«Was ist mit dem Wagen?»

«Was für 'n Wagen?»

Brock sah sich um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er stieg ein und setzte sich neben Blood, und dann fuhren sie weiter auf der fast völlig dunklen Straße. Bald hörte der Asphalt auf, und Bäume rechts und links rückten näher heran. Beim Fahren erzählte Vato die alte Yurok-Geschichte von einem Mann aus Turip, etwa fünf Meilen flußaufwärts von der Mündung des Klamath, der die junge Frau, die er liebte, verloren hatte und ihr ins Land der Toten folgte. Als er das Boot von Illa'a, dem Fährmann, der die Toten über den letzten Fluß setzt, fand, zog er es aus dem Wasser und schlug mit einem Stein den Boden heraus. Und zehn Jahre lang starb niemand mehr, weil es kein Boot gab, in dem die Toten hätten hinüberfahren können.

«Hat er sie zurückbekommen?» wollte Brock wissen. Nein, mh-mh. Aber er kehrte in sein altes Leben nach Turip zurück, wo alle gedacht hatten, er sei gestorben, und wurde berühmt und erzählte seine Geschichte viele Male. Er warnte seine Zuhörer eindringlich vor dem Geisterweg nach Tsorrek, dem Land der Toten, auf dem schon so viele gegangen waren, daß er brusttief ausgetreten war. Wenn man einmal unter der Erde war, gab es keine Wiederkehr mehr. Brock sah aus dem Fenster und merkte, daß sich rechts und links des immer schmaler werdenden Weges inzwischen Erdwände erhoben, aus denen über Kopfhöhe knotige Baumwurzeln ragten, und daß der Schlamm, der anfangs feucht geschimmert hatte, immer dunkler wurde, bis man ihn nur noch riechen konnte. Und bald hörte man von vorn das hallende, scharfe, unablässige Rauschen eines Flusses und von der anderen Seite das Trommeln, die Stimmen, die keine Choräle sangen, sondern Erinnerungen zum besten gaben, Spekulationen äußerten, stritten, Geschichten erzählten, Flüche ausstießen, Lieder sangen, die all das taten, was Stimmen eben tun, nur daß es nicht den kleinsten Augenblick der Stille gab. All diese Stimmen, für immer und ewig.

Jenseits des Flusses sah Brock Lichter, die sich, eine Reihe über der anderen, einen welligen Hang hinaufzogen - beengte, aufeinandergetürmte Behausungen. Im Licht von qualmenden Fackeln und Feuern konnte er tanzende Gestalten ausmachen. Eine alte Frau und ein alter Mann näherten sich. Der Mann hielt etwas in den Händen, das Brock nicht genau erkennen konnte. Doch dann bemerkte er im Zwielicht, daß ringsum Knochen lagen, Menschenknochen, Schädel, Skelette. «Was ist das?» fragte er. «Bitte.»

«Sie nehmen dir die Knochen raus», sagte Vato. «Die Knochen müssen auf dieser Seite bleiben. Der Rest von dir wird übergesetzt. Du wirst ziemlich anders aussehen und dich in der ersten Zeit ziemlich komisch bewegen, aber es heißt, daß man sich dran gewöhnt.»   - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Geister Weg

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