eisterinsel    Lange und vielemal mußte ich es üben unter namenlosen, zermürbenden Qualen, bis es mir endlich gelang, mich vom Leibe loszulösen. Anfangs fühlte ich mich schweben, so wie wir wohl im Traume zuweilen glauben fliegen zu können — mit angezogenen Knien und ganz leicht -. aber plötzlich trieb ich in einem schwarzen Strom dahin, der von Süden nach Norden floß — wir nennen es in unserer Sprache das Aufwärtsfließen des Jordan —. und sein Brausen klang wie das Rauschen des Blutes in meinem Ohr. Viele aufgeregte Stimmen, deren Urheber ich nicht sehen konnte, schrien mich flehend an, ich solle umkehren, bis mich ein Zittern befiel und ich in dumpfer, unbestimmter Angst einer Klippe zuschwamm, die plötzlich vor mir auftauchte. Im Mondlicht sah ich ein Geschöpf dort stehen, so groß wie ein halbwüchsiges Kind, nackt und ohne die Merkmale männlichen oder weiblichen Geschlechtes; es hatte ein drittes Auge auf der Stirn wie der Polyphem und deutete stumm und regungslos in das Innere des Landes.

Dann schritt ich durch ein Dickicht dahin auf einem glatten, weißen Wege, doch ich spürte den Boden mit meinen Füßen nicht, und auch, wenn ich die Bäume und Sträucher ringsum berühren wollte, konnte ich ihre Oberfläche nicht greifen: Immer lag eine dünne Schicht Luft dazwischen, die sich nicht durchdringen ließ. Ein fahler Glanz wie von faulem Holz bedeckte alles und machte das Sehen deutlich. Die Umrisse der Dinge, die ich wahrnahm, schienen locker, molluskenartig aufgeweicht und wunderlich vergrößert. Junge federlose Vögel mit runden frechen Augen hockten feist und gedunsen gleich Mastgänsen in einem riesigen Nest und kreischten auf mich herab, eine Rehkitze, kaum noch fähig zu laufen und doch schon so groß wie ein völlig entwickeltes Tier, saß träge im Moos und drehte, fett wie ein Mops, schwerfällig den Kopf nach mir.

Eine krötenhafte Faulheit in jedem Geschöpf, das mir zu Gesichte kam.

Allmählich ging mir die Erkenntnis auf. wo ich mich befand: In einem Land, so wirklich und wahrhaftig wie unsere Welt und dennoch nur ein Widerschein von ihr: in dem Reich der gespenstischen Doppelgänger, die sich von dem Mark ihrer irdischen Urformen nähren, sie ausplündern und selber ins Ungeheure wachsen, je mehr sich jene verzehren in vergeblichem Hoffen und Harren auf Glück und Freude. Wenn auf der Erde jungen Tieren die Mutter weggeschossen wird, und sie voll Vertrauen und Glauben auf Nahrung warten und warten, bis sie in Qualen verschmachten, entsteht ihr gespenstisches Ebenbild auf dieser verfluchten Geisterinsel und saugt wie eine Spinne das versickernde Leben der Geschöpfe unserer Erde in sich: Die im Hoffen entschwindenden Kräfte des Daseins der Wesen werden hier Form und wucherndes Unkraut, und der Boden ist geschwängert von dem düngenden Hauch einer verwarteten Zeit.  - Gustav Meyrink, J.H. Obereits Besuch bei den Zeitegeln. In: G. M., Der Kardinal Napellus. Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges

 

Insel Geister

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme