Geisterfrau   Balzacs Haus befand sich am Ende einer steil den Berg hinaufführenden Straße in Passy, von der aus man auf die Seine sehen konnte. Zuerst mußten sie an der Tür eines Mietshauses läuten, dann eine Treppe hinuntersteigen, die in einen Keller zu führen schien, aber an einer Gartenpforte mündete. Weiter ging es durch den Garten, und dann kam wieder eine Tür, an der man klingeln mußte. Dies war der eigentliche Eingang zu Balzacs Haus, ein Haus voller Geheimnisse, versteckt im Garten des Mietshauses, verborgen, abgeschieden und doch mitten im Herzen von Paris.

Die Frau, die ihnen öffnete, erschien wie ein Gespenst aus der Vergangenheit - verblaßtes Gesicht, verblaßtes Haar, verblaßte Kleidung, blutlos. Ein Dasein inmitten von Balzacs Manuskripten, Bildern, Stichen von Frauen, die er geliebt hatte, von Erstausgaben hatte sie derart mit der Vergangenheit erfüllt, daß alles Blut aus ihr gewichen war.

 Selbst ihre Stimme klang entfernt, gespenstisch. Sie wohl te in diesem Haus voll toter Andenken. Sie war genaus gestorben für alles, was in der Gegenwart lebte. Es war, al bettete sie sich jede Nacht in das Grab Balzacs, um mit ihn zu schlafen.

Sie führte ihre beiden Besucher durch eine Flucht voi Zimmern zum hinteren Teil des Hauses. Dort befand siel eine Falltür. Sie hakte ihre langen knöchernen Finge durch den Ring und hob die Tür an, damit Elena und Piern einen Blick hinunterwerfen konnten. Die Falltür ging au; eine kleine Treppe.

Balzac hatte sie selbst konstruiert, damit die Frauen, die ihn besuchten, nicht gesehen wurden und sie unerkannt ihren eifersüchtigen Ehemännern entkommen konnten. Er selbst hatte die Falltreppe benutzt, wenn allzu hartnäckige Gläubiger ihn bedrängten. Die Treppe führte zu einem kleinen Pfad und dieser wiederum an eine Gittertür, durch die man auf eine abgelegene, am Seine-Ufer vorbeiführende Straße gelangte. So konnte man verschwinden, noch ehe jemand, der sich am Eingang des Hauses gemeldet hatte, das erste der Zimmer betreten hatte.

Elena und Pierre waren vom Anblick der Falltür, die ihnen so viel über Balzacs Liebesleben erzählte, derart gerührt, daß es wie ein Aphrodisiakum auf sie wirkte. Pierre hatte geflüstert: »Ich könnte dich auf der Stelle und gleich hier auf dem Boden nehmen.« Die Geisterfrau hatte zwar diesen Satz, den Pierre mit der Unverfrorenheit eines Zuhälters geäußert hatte, nicht mitbekommen, aber sie hatte den Blick, der ihn begleitete, aufgefangen. Die Laune der Besucher paßte wohl nicht zu dem geheiligten Ort. Jedenfalls drängte sie sie hinaus.   - (nin)

 

Geister Frau

 

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