Geisterfräulein  Wirklich, da standen zwei niedliche kleine Mädchen in himmelblauen Tempelkutten, das Haar zu Muschelspiralen gewunden, vor ihm. Jetzt neigten sie sich vor ihm zu tiefer Verbeugung.

»Woher kommt ihr Gcisterfräuleine« fragte Sang.

»Vom Palast unserer Göttin. Sie wünscht den Sternenfürsten zu sehen«, zwitscherten die Blaugerockten.

»Ihr irrt. Ich bin Sung Kiang und kein Sternenfürst.«

»Wir irren nicht. Kommt und laßt unsere Göttin nicht warten!«

»Wer ist denn eure Göttin;»

»Das werdet Ihr schon noch erfahren. Jetzt haltet uns nicht mit Fragen auf!«

Sung folgte seinen kleinen Führerinnen aus der vorderen Tempelhalle in den Hof, an der hinteren Tempelhallc vorbei zu einer Seitenpforte in der Mauer.

»Bitte, Sternenfürst Sung, hier hindurch!« luden ihn die Geisterfräulein ein.

Er schritt durch die Pforte. Unter dem sternenglitzernden Mondscheinhimmel lag vor ihm ausgebreitet ein üppiger Bambushain.

>Hätte ich vorher von diesem Hain gewußt, dann hätte ich mich gleich hier versteckt und nicht drinnen in der engen Nische soviel Ängste auszustehen brauchen«, dachte er bei sich.

Von dem Bambushain ging es zwischen duftenden Rosenhecken durch einen engen Piniengang, dessen Geäst zum Dach verschlungen war. Dann mündete der schmale Pfad in einen breiten, schön und eben gepflasterten Weg, dessen Steinquadern in Form von Schildkrötenrücken gemeißelt waren. >Wer hätte geglaubt, daß es hinter diesem alten verfallenen Tempel einen so schönen Pflasterweg gibt!< dachte Sung erstaunt bei sich.

Einen Li weit mochte er etwa gegangen sein, da hörte er einen Wasserfall rauschen. Er stand vor einer Brücke aus dunkelgrünem Gestein mit rot geschnitztem Geländer. Die Ufermatten des Bachs unter der Brücke waren mit Wunderblumen und seltenem Gebüsch bestanden, zwischen dem das Azurblau dunkler Zypressen schattete und das Eisvogelgrün von hellem Bambus schimmerte, schmales Weidenblattgerinnsel zitterte und das Rot des himmlischen Pfirsichs lachte. Hell wie Silbergewölk stäubte es unweit der Brücke von hoch aus Grottennacht stürzendem Gischt. Sung schritt über die Brücke und gelangte durch zwei Reihen seltener Bäume zu einer offenen hellroten Gitterpforte. Er trat ein und sah sich vor einer ragenden Palasthalle. >Merkwürdig, ich habe in meinem Yün tschong hsiän nie davon gehört, daß es hier einen so schönen Palast gibt<, ging es ihm durch den Sinn.

Er war ganz benommen vom Anblick des großartigen Baus und hemmte in scheuer Ehrfurcht seinen Schritt. Es bedurfte einer Ermunterung seiner Führerinnen, ehe er sich weiter getraute.

Es ging durch einen Vorhof zwischen Wandelgängen mit purpurroten Pfeilern und bestickten Vorhängen. Dann stand er vor der ragenden Halle. Sie schimmerte im Schein von Kerzen und Laternen.

Zögernd stieg er hinter seinen Führerinnen Stufe für Stufe die Mondterrasse vor dem Eingang empor. »Die Göttin bittet den Sternenfürsten näher zu treten«, rief es von drinnen.

Beklommen und zitternd, mit aufwärts gesträubtem Haar trat er ein. Andere bkugerockte Geisterfräulein geleiteten ihn in die Hallenmitte vor die Stufen eines Throns. Die Stufen waren aus Kacheln im Drachen-Phönix-Muster gefügt und von einem Vorhang aus Perlenschnüren verhüllt.

»Der Sternenfürst Sung harrt vor den Stufen«, meldeten die Blaugerockten nach innen durch den Vorhang. Sung warf sich zu Boden und vollzog einen dreifachen Stirnaufschlag.

»Der Untertan entstammt dem Schmutz des profanen Pöbels und kennt Eure erhabene Majestät nicht. Er hofft auf schonende und gnädige Nachsicht«, stammelte er.

»Nehmt Platz, Sternenfürst!« kam hinter dem Vorhang her die Stimme der Majestät.

Der widerstrebende Sung wurde von vier Geisterfräulein in einen Polstersessel genötigt. »Vorhang auf!« tönte die Stimme von drinnen. Die Blaugerockten kamen herbei, rollten die Perlenschnüre rechts und links auf und schoben sie über goldene Haltehaken.

»Wie war seither das Befinden des Sternenfürsten?« fragte die Göttin auf dem Thron.

Sung stand auf und erwiderte mit gesenktem Haupt. »Der profane Untertan möchte sich nicht unterfangen, in Eurer Majestät erhabenes Antlitz zu schauen!« »Da Ihr nun einmal da seid, laßt die Förmlichkeit, Sternenfürst!« ermunterte ihn die Göttin freundlich. Erst jetzt wagte Sung, sein Auge emporzuheben und um sich zu blicken. Er sah den kerzenerhellten Saal in Gold und Edelsteinen schimmern. Rechts und links vom Thron sah er vier Geisterfräulein von höherem Rang stehen. Das eine hielt ein Zepter in der Hand, das zweite eine elfenbeinerne Schrcib-tafel, das dritte ein Banner, das vierte einen Wedel. In der Mitte auf ihrem von neun Drachen getragenen, mit den >sieben Kostbarkeiten geschmückten Thron saß eine herrliche Frau von überirdischer Schönheit. Sie trug ein gold-durchwirktes Gewand von purpurroter Seide und hielt in der Rechten ein Zepter von weißem Nephrit. »Setzt Euch wieder hin, Sternenfürst!« lud sie Sung ein und ließ ihm von den Blaugerockten aus einem kostbaren goldenen, in Form eines Lotoskelches getriebenen Kruge Wein in einen nephritenen Becher schenken.

Kniend, zur Göttin gewandt, trank Sung von dem starken, berauschenden Naß, das ihm wie flüssiger Duft durch die Kehle rann und wie süßer Tau die Eingeweide netzte. Dazu wurden ihm Geisterdatteln gereicht. Schüchtern, immer in Angst, die gute Form zu verletzen und unbescheiden zu erscheinen, langte er sich mit ausgestreckten Fingerspitzen eine einzelne und verzehrte sie. Den Kern wagte er nicht wegzuwerfen, sondern hielt ihn krampfhaft in der Hand fest. Nach wiederholtem Zureden hatte er glücklich drei Becher bewältigt und hielt drei Dattelkerne in der Hand. Schon fühlte er einen leichten Rausch aufsteigen. Er war besorgt, daß er sich vergessen und ungebührlich aufführen könnte, wenn er dem starken Getränk weiter zuspräche. »Der Untertan fleht die erhabene Majestät an, ihn von weiterem Trinken zu entbinden. Er ist der Kraft des Weins nicht gewachsen«, bat er kniend die Göttin.  - (raub)

Fräulein Geister

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