Geisterfluß  Sie hatten im Wald und vor allem oben am Seventh Dinge gesehen, deren öffentliche Erwähnung ihnen in gewissen Kneipen der Gegend ein sofortiges Lokalverbot wegen Altersdemenz sowie weniger förmliche Sanktionen auf dem Parkplatz davor eingetragen hätte.

Sie bogen bei der Ausfahrt North Spooner vom Freeway ab und fuhren auf dem River Drive. Kaum lagen die Lichter von Vineland hinter ihnen, nahm der Seventh wieder seine alte Gestalt an und wurde, was er für die Yuroks immer gewesen war: ein Fluß der Geister. Alles hatte einen Namen - die Stellen, wo man fischen und Schlingen setzen und Eicheln sammeln konnte, die Felsen im Fluß und am Ufer, Haine und freistehende Bäume, Quellen, Gumpen, Wiesen, das alles lebte und war beseelt. Viele dieser Geister waren woge, wie die Yuroks sie genannt hatten - Wesen, die wie Menschen aussahen, aber kleiner waren, und die bereits vor den ersten Menschen hier gelebt hatten. Als diese sich in dieser Gegend niederließen, zogen die woge sich zurück. Manche wanderten für immer aus, ostwärts, über die Berge, oder kauerten sich aneinandergedrängt in riesige Redwood-Boote, sangen im Chor Lieder über Vertreibung und Exil, die leiser wurden, je weiter die Boote aufs Meer hinaustrieben, und selbst für die Ohren der Neuankömmlinge trostlos und verloren klangen. Andere woge brachten es nicht über sich zu gehen und verschmolzen statt dessen mit Teilen der Landschaft, bewahrten sich ihr Bewußtsein und die Erinnerung an bessere Zeiten, waren imstande, Kummer und - im Laufe der Jahre - auch andere Gefühle zu empfinden, während Generationen von Yuroks auf ihnen saßen, aus ihnen fischten, in ihrem Schatten ausruhten. Die woge lernten, die Naturerscheinungen zu lieben und ihren Nuancen feiner nachzuspüren, dem Wind und dem Licht ebenso wie den Erdbeben und den Sonnenfinsternissen und den schweren Winterstürmen, die, einer nach dem anderen, vom Golf von Alaska über sie hinwegbrausten.

Die Yuroks hatten diesen Fluß schon immer als etwas Besonderes betrachtet: Für sie war eine Reise von der Mündung hinauf zu seiner Quelle auch eine Reise durch das Reich hinter der sichtbaren Welt. Nebelerscheinungen verschwanden lautlos unter dem Laubdach kleiner Buchten, in den Schluchten scharten sich tropfnasse Farne hörbar zusammen, kaum sichtbare Vögel riefen mit fast menschlichen Stimmen, Pfade führten ohne Vorwarnung in die Erde, nach Tsorrek, in das Reich der Toten. Vato und Blood, die Stadtmenschen, von denen man hätte meinen sollen, daß sie das alles eher zum Fürchten fanden, stiegen mit einer Begeisterung darauf ein, als wären sie selbst aus einem Exil zurückgekehrt. Die Hippies, mit denen sie darüber sprachen, meinten, es könnte so eine Art Reinkarnation sein - diese Küste, diese Berge seien heiliges, magisches Land, und die woge seien in Wirklicheit die Delphine, die ihre Welt den Menschen überlassen hätten, deren Hände dieselbe fünffingrige Knochenstruktur aufwies wie ihre Flossen, okay?, und die wieder in den Ozean zurückgekehrt seien, gleich drüben, in der Gegend von Patrick's Point bei Humboldt, um zu sehen, was die Menschen mit ihrem Land machten. Und wenn wir zuviel Mist bauen, fügten einige dieser einheimischen Gewährsleute hinzu, kommen sie zurück und bringen uns bei, wie man richtig lebt, und retten uns...   - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Geister Fluß

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