Gegenschmerz  WIR FUTURISTEN WOLLEN DIE ROMANISCHEN VÖLKER, UND IM BESONDEREN UNSER VOLK, VOM SCHMERZEMPFINDEN, DIESER PASSATISTISCHEN SYPHILIS, HEILEN, die durch chronische Romantik, scheußliche Gefühlsduselei und pietätvolle Sentimentalität noch verschlimmert wird und die jeden Italiener bedrückt. Wir wollen deshalb systematisch:

1. das romantische, quälende und schmerzliche SCHRECKGESPENST DER sogenannten ERNSTEN DINGE ZERSTÖREN, indem wir mit Hilfe der Wissenschaft, der Kunst und der Schule das Lächerliche aus ihnen hervorholen und entwickeln.

2. den physischen und moralischen Schmerz mit seiner Parodie bekämpfen; die Kinder die mannigfaltigsten Arten an Grimassen, Fratzen, Stöhnen, Wehlauten und Schreien lehren, um sie vor dem üblichen Geweine zu bewahren.

3. jede nur mögliche Art des Schmerzes dadurch entwerten, daß man sie durchdringt, von allen Seiten betrachtet und kaltblütig zergliedert.

4. ANSTATT SICH IM DUNKEL DES SCHMERZES AUFZUHALTEN, IHN MIT SCHWUNG DURCHQUEREN, UM IN DAS LICHT DES LACHENS EINZUTRETEN.

5. von Jugend an den Wunsch nach dem Alter hegen, um sich nicht erst von seinem Gespenst, dann von dem einer nicht genossenen Jugend beunruhigen zu lassen. Alle möglichen physischen und moralischen Leiden in der Stunde größter Gesundheit und Heiterkeit unseres Lebens nachzuempfinden in der Lage sein.

6. den Gebrauch des Parfüms durch den übler Gerüche ersetzen. Laßt in einen Ballsaal frischen Rosenduft eindringen, und ihr werdet euch in einem eitlen, vergänglichen Lächeln wiegen; aber laßt den Saal von dem viel tiefgründigeren Geruch von Scheiße durchdringen (einer menschlichen Tiefe, die dummerweise verkannt wird), und ihr werdet ihn in Heiterkeit und freudige Erregung versetzen. Ihr nehmt den Blumen ihre Köpfe, ihre Blütenblätter. Ihr seid oberflächlich. Sie verlangen für ihr Glück von euch das Intimste und Reifste aus dem Innersten eures Körpers: sie sind gründlicher als ihr.

7. aus den Verrenkungen und den Gegensätzen des Schmerzes die Elemente für ein neues Gelächter ziehen.

8. die Krankenhäuser mit Hilfe von höchst heiteren Fünf-Uhr-Tees, Tingeltangel und Clowns in Unterhaltungsstätten verwandeln. Den Kranken komische Bekleidungsstücke aufzwingen, sie wie Schauspieler schminken, um bei ihnen eine nie enden wollende Fröhlichkeit auszulösen. Die Besucher dürfen in die einzelnen Abteilungen der Krankensäle nicht eintreten, ohne vorher ein eigens dafür eingerichtetes Häßlichkeits- und Widerlichkeitsinstitut besucht zu haben, wo sie sich mit riesigen Furunkelnasen, falschen Verbänden usw. ausstaffieren.

9. die Begräbnisse in Maskenzüge verwandeln, die von einem Humoristen vorbereitet und geleitet werden, der alles Groteske des Schmerzes auszuschlachten versteht. Die Friedhöfe durch Trinkstuben, Bars, Schlittschuhbahnen, Berg- und Talbahnen, türkische Bäder und Turnhallen modernisieren und bequem gestalten.

10. nicht lachen, wenn man jemand lachen sieht (unnützes Plagiat), aber zu lachen verstehen, wenn man jemanden weinen sieht. In den Leichenhallen Vergnügungsetablissements einrichten und Grabinschriften diktieren, die auf Wortspielen, Kalauern und Doppeldeutigkeit beruhen. Also den nützlichen und gesunden Instinkt entwickeln, der uns lachen läßt, wenn wir einen Menschen zu Boden fallen sehen, ihm beim Aufstehen nicht helfen und ihn so mit unserer Lustigkeit anstecken.

11. eine ganz neue, fruchtbare Komik aus einer Mischung von Erdbeben, Schiffbrüchigen, Bränden usw. ziehen.

12. die Irrenhäuser in Fortbildungsschulen für die kommenden Generationen verwandeln.   - Aldo Palazzeschi 1913, nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

Schmerz

 

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