edichtkritik «Tindari, heiter kehr wieder; / süßer Freund weckt mich /daß ich vom Felsen zum Himmel mich recke / und ich stelle mich furchtsam vor dem, der nicht weiß /daß tiefer Wind mich gesucht hat.» (Diese gar nicht schlechten Verse stammen von unserem aktuellen Nobelpreis; ich entnehme sie selbstverständlich nicht den Gedichten, sondern einer illustrierten Wochenzeitung, die das Ereignis würdigt.)
Anmerkungen: 1) Warum die Inversion des ersten Verses? «Tindari, kehr heiter
wieder» wäre zweifelsohne besser gewesen, vor allem nach einem «bitter zu brechenden
Brot». 2) Das «daß» des dritten Verses ist offensichtlich ein «weshalb», aber
das ist nicht wichtig. 3) Das «mich gesucht hat» am Schluß ist zwar durchaus
akzeptabel und sogar ganz einleuchtend, doch es wiegt ein klassisches «mich
heimgesucht hat» nicht auf. Oder hätte dieser Wind den Dichter wirklich
gesucht und nicht heimgesucht oder durchzaust? Aber warum dann «tief>? Nein,
es geht vielmehr darum, daß «mich heimgesucht hat» an einem Grundübel leidet:
Es ist abgedroschen. - (land3)
Gedichtkritik (2)
À Pierre Reverdy La voyageuse qui traversa les Halles à Ja tombée de !'é£é |
TOURNESOL für Pierre Reverdy Auf Zehenspitzen ging die Reisende |
Versuche ich, die genaue Entstehungszeit dieses Gedichtes anzugeben, so glaube ich feststellen zu können, daß es im Mai oder Juni 1923 in Paris geschrieben wurde. Es wäre für mich von höchster Notwendigkeit gewesen, die vielleicht datierte Handschrift wiederzufinden, aber diese muß sich im Besitz einer Person befinden, die Ich nur sehr ungern darum bitten würde. Vor allem wäre es bedeutsam, zu erfahren, ob es irgendwelche Streichungen aufweist, denn ich bin mir noch des Zauderns bewußt, das mich beim Niederschreiben gewisser Wörter überkommen haben muß. Es scheint mir so gut wie sicher, daß ich nachträglich zwei oder drei Veränderungen vorgenommen habe, und zwar in der - letzten Endes höchst bedauerlichen - Absicht, dem Ganzen größere Einheit zu verleihen, den Anteil unmittelbarer Dunkelheit, scheinbarer Willkür zu verringern, der sich mir aufdrängte, als ich meinen Text zum erstenmal las. Dieses Gedicht ist mir immer als ein wirklich inspiriertes erschienen, zumindest was den Ablauf des Geschehens darin betrifft, aber ich konnte mich doch nicht des Eindrucks erwehren, diese Inspiration habe sich, außer in dem letzten Drittel, nicht ohne einige Fehlgriffe in der Wortwahl durchgesetzt. Was den Ausdruck anbelangt, weist ein solcher Text für meine Augen, für mein Ohr durchaus Schwächen und Lücken auf. Was aber soll man von meinem späteren Bemühen, hier Abhilfe zu schaffen, halten? Heute fallt es mir nicht schwer, sein gründliches Versagen festzustellen. Die kritische Tätigkeit, die mich hier be-wogen hat, nachträglich einige Wörter hinzuzufügen oder durch andere zu ersetzen, läßt mich diese Korrekturen heute als Fehler erkennen: sie kommen dem Leser keinesweges zu Hilfe, im Gegenteil, und sie führen hie und da nur dazu, die Authentizität ernstlich zu gefährden. Als eindeutige Beispiele solcher leichten Änderungen (sie haben mich so wenig befriedigt, daß sie mir noch nach dreizehn Jahren als untilgbare Flecken erscheinen) erwähne ich die Einsetzung des d'eux zwischen vu und que mal im neunten Vers, die Ersetzung des à durch de am Anfang des elften. Noch weniger verhehle ich mir, daß das Wort dévoués in Vers dreiundzwanzig hier statt eines anderen steht (vielleicht statt des Wortes dangereux, jedenfalls eines Wortes, gegen das die Feder sich sträubte, unter dem Vorwand, daß es neben dem Wort revenants etwas Kindisches haben könnte; dévoués jedenfalls entbehrt hier jedes Inhalts, es ist ein bloßes Füllwort. Am besten stünden hier nur drei Punkte).
Auch unter Berücksichtigung der hier vorgebrachten kleinen Einschränkungen scheint es mir dennoch möglich, beides einander gegenüberzustellen: das nur imaginierte Abenteuer, das sich im Rahmen des obigen Gedichtes abspielt, und der verspätete, aber durch seine Genauigkeit so überaus eindrucksvolle Nachvollzug dieses Abenteuers im Bereich der Wirklichkeit. Es versteht sich allerdings von selbst, daß ich, als ich das Gedicht >Tournesol< schrieb, mich von keiner Vorstellung leiten ließ, aus der sich die eigentümliche Richtung, der ich dort folgte, erklärt hätte. Nicht nur blieb die »Reisende«, die »junge Frau«, die »Dame ohne Schatten« damals für mich eine Gestalt ohne Gesicht; ich war auch hinsichtlich des Ablaufs der einzelnen Geschehnisse in diesem Gedicht außerstande, mich zurechtzufinden. Notwendigerweise gewann der sehr mysteriöse Anruf am Schluß in meinen Augen dadurch noch an Gewicht, und diesem Anruf, wie ein wenig auch dem ins einzelne gehenden Bericht von etwas, das doch niemals stattgefunden bat, verdankt das Gedicht, das mir lange sehr wenig befriedigend vorkam, vermutlich, daß es nicht, wie andere, alsbald vernichtet wurde.
La voyageuse marchant sur la pointe des pieds: Es ist unmöglich, in dieser Reisenden nicht meine in jenem Augenblick sehr schweigsame Begleiterin vom 29. Mai 1934 wiederzuerkennen. La tombée de l'été - der »Anbruch des Sommers«: tombée du jour und tombée de la nuit sind, wie man weiß, Synonyme. Der Einbruch der Nacht ist demnach, mit Sicherheit in diesem Bild beschlossen, wo er mit der Ankunft de* Sommers zusammengeht.
Le désespoir: In jenem Augenblick allerdings eine überwältigende Verzweiflung,
überwältigend wie die Hoffnung, die hier gestiftet wurde, die so plötzlich zusammenbricht
und aus ihrer Asche wiedergeboren wird. Etwas unsicher fühle ich mich angesichts
der sexuellen Bedeutung der Arums und der Handtasche, die, obwohl sie sich hinter
Wahnvorstellungen der Größe - die Sterne, die »Gevatterin Gottes« (?) - versteckt, nichtsdestoweniger
offen zutage liegt. Das flacon de sels, von dem dann die Rede ist, ist übrigens
bis heute die einzige Stelle in dem Gedicht, die sich meiner Geduld, der Beharrlichkeit
meiner Auslegung nicht ergeben hat. Noch heute sind mir der vierte und fünfte
Vers zuwider, die wohl hauptsächlich an dem Mißfallen schuld waren, das ich diesem >Tournesol< lange entgegenbrachte.
Dennoch habe ich, wie man noch sehen wird, allzu viele Gründe zu der Annahme,
daß, was bei der Analyse am längsten widersteht, das Einfachste und das Wichtigste
ist, um nicht zu vermuten, daß es sich dabei um etwas Entscheidendes handelt,
das mir eines Tages transparent werden wird. ... - André Breton, Amour fou. Frankfrt am Main 1985 (zuerst 1937)
Gedichtkritik (3)
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