Gedichtentstehung


"Début dun poème" 

- Paul Klee

Gedichtentstehung (2)  Es ist der Vorgang beim Entstehen eines Gedichts. Was liegt im Autor vor? Welche Lage ist vorhanden? Die Lage ist folgende: Der Autor besitzt:

Erstens einen dumpfen schöpferischen Keim, eine psychische Materie.

Zweitens Worte, die in seiner Hand liegen, zu seiner Verfügung stehen, mit denen er umgehen kann, die er bewegen kann, er kennt sozusagen seine Worte. Es gibt nämlich etwas, was man die Zuordnung der Worte zu einem Autor nennen kann. Vielleicht ist er auch an diesem Tag auf ein bestimmtes Wort gestoßen, das ihn beschäftigt, erregt, das er leitmotivisch glaubt verwenden zu können. Drittens besitzt er einen Ariadnefaden, der ihn aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn - und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand. Immer wieder fühlen Sie an ihm herum, am einzelnen Wort, am einzelnen Vers, Sie nehmen die zweite Strophe gesondert heraus, betrachten sie, bei der dritten Strophe fragen Sie sich, ob sie das missing link zwischen der zweiten und vierten Strophe ist, und so werden Sie bei aller Kontrolle, bei aller Kritik die ganzen Strophen hindurch innerlich geführt - ein Schulfail jener Freiheit am Bande der Notwendigkeit, von der Schiller spricht. Sie können auch sagen, ein Gedicht ist wie das Sdiiff der Phäaken. von dem Homer erzählt, daß es ohne Steuermann geradeaus in den Hafen fährt. Von einem jungen Schriftsteller, den ich nicht kenne, und von dem ich nicht weiß, ob er lyrische Werke schafft, von einem gewissen Albrecht Fabri las ich kürzlich im „Lot" eine Bemerkung, die genau diesen Sachverhalt schildert, er sagt: „die Frage, von wem ein Gedicht sei, ist auf jeden Fall eine müßige. Ein in keiner Weise zu reduzierendes X hat teil an der Autorschaft des Gedichtes, mit anderen Worten, jedes Gedicht hat seine homerische Frage, jedes Gedicht ist von mehreren, das heißt von einem unbekannten Verfasser."

Dieser Sachverhalt ist so merkwürdig, daß ich ihn nochmal anders ausdrücken möchte. Irgend etwas in Ihnen schleudert ein paar Verse, heraus oder tastet sich mit ein, paar Versen hervor, irgend etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite ganz etwas anderes: raffiniert und skeptisch. Ist das erste vielleicht subjektiv, bringt das zweite die objektive Welt heran, es ist das formale, das geistige Prinzip.  - Gottfried Benn, Probleme der Lyrik (1951), in: G.B., Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden 1965

 

Gedicht Prozess, kreativer

 

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