edankenlesen  

 Gedankenlesen
Gedankenlesen 

- Charles M. Schulz, You're my hero, Charlie Brown! London 1968 (Hodder Fawcett Coronet Books, zuerst ca. 1958)

Gedankenlesen (2)  Es ist grauenvoll, wenn man sich panisch vor seinem eigenen Sohn fürchtet, aber so geht es mir nun mal. Ich versuche es zu verbergen, es einfach zu ignorieren; versuche, eine halbwegs normale Vater-Sohn-Beziehung aufrechtzuerhalten, aber es fällt mir immer schwerer. Meine panische Angst vor ihm wird täglich größer. Und er ist sich dessen sehr wohl bewußt. Manchmal habe ich das grauenhafte Gefühl, daß er meine Gedanken lesen kann. Und manchmal bin ich mir sicher, daß er dazu in der Lage ist. Er scheint zu wissen, was ich vorhabe, bevor es mir selbst bewußt ist. Ich weiß, es klingt unsinnig, aber er weiß es. Also, darum habe ich nichts unternommen, obwohl ich es ganz offensichtlich hätte tun sollen. Ich habe selbst die ernsthafte Erwägung solcher Maßnahmen vermieden. Er würde mich umbringen, bevor ich sie ausführen könnte. - (thom)

Gedankenlesen  (3)  Es war im zweiten Jahre der Regierungsperiode ‹Friedlicher Glanz›, als Herr Tschen Bau-yo aus Djin-djiang sein Amt als Inspektor des Bezirkes Tjing in der Provinz Schantung übernommen hatte. Eines Nachts hörte er plötzlich, wie jemand rezitierte, und vernahm auch das Geräusch von Schlagen oder Klopfen. Als er nachfragen wollte, da war alles still und niemand gab ihm Antwort. Sein Diener aber ließ sich die Mühe nicht verdrießen, ergriff eine Lanze und wollte der Sache auf den Grund gehen. Er hörte in jener Nacht aber nur, wie jemand laut und zornig schimpfte. Da stieß er die Türe auf und drang in den bewußten Raum ein. Dort erblickte er ein Gespenst mit blauem Gesicht, Eberzähnen und rotem Körper, das da hoch aufgerichtet stand und mit dem Kopf fast bis an die Dachtraufe reichte. Zitternd ließ der Diener seine Lanze fallen und warf sich auf den Boden. Herr Tschen aber kam eilends herzugelaufen und rief dem Gespenst zu: «Das hier ist ein amtliches Gebäude unseres Kaiserhofes - was gibt es hier zu spuken und sich derart aufzuführen?»

Das Gespenst lachte und erwiderte: «Ich habe gehört, daß der Diener von Euer Gnaden einmal nachschauen wollte, und bin eigens gekommen, um mir seine Lanze zu holen.» Herr Tschen ergrimmte sehr und dachte bei sich, er werde wohl seine Soldaten aufbieten müssen, um hier etwas zu erreichen, aber sowie er nur begonnen hatte, diesen Gedanken zu fassen, lachte das Gespenst wiederum auf und sagte: «Was ist das für ein unhöfliches Vorgehen, Soldaten gegen mich aufzubieten!»    - Aus: Die Goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden. München 1961

Gedankenlesen  (4)  Wir schlenderten eines Nachts auf einer langen schmutzigen Straße dahin, unweit des Palais Royal. Beide offenbar mit Nachdenken beschäftigt, hatten wir wenigstens fünfzehn Minuten lang keine Silbe gesprochen. Da brach Dupin ganz plötzlich in die Worte aus: -« Er ist ein ziemlich kleiner Kerl, das stimmt, und wäre besser für das Theatre des Variétés geeignet.» «Daran kann kein Zweifel sein», erwiderte ich unwillkürlich und ohne sogleich (derart vertieft war ich in meine Überlegungen) die ungewöhnliche Weise zu bemerken, in welcher der Sprecher sich mit meinen stillen Meditationen in Einklang gebracht hatte. Einen Augenblick danach jedoch besann ich mich und erstaunte nun allerdings gründlich.

«Dupin», sagte ich ernst, «dies geht über mein Begreifen. Ich stehe nicht an zu sagen, daß ich bestürzt bin, und mag meinen Sinnen kaum trauen. Wie war es möglich - wie konnten Sie wissen, daß meine Gedanken bei - - ? » Hier hielt ich inne, um ganz zweifelsfrei versichert zu sein, ob er wirklich wußte, an wen ich dachte.

 «- - bei Chantilly weilten», sagte er; «warum stocken Sie denn? Sie bildeten sich soeben die Vorstellung, daß seine geringfügige Gestalt ihn für die Tragödie ungeeignet mache.»

Tatsächlich hatte grad dieses meine Gedanken beschäftigt. Chantilly war ein ehemaliger Flickschuster aus der Rue St. Denis, der - bühnentoll geworden - sich in der Rolle des Xerxes in Crebillons gleichnamiger Tragödie versucht hatte und für diese beschwerliche Unternehmung schmählich pasquiniert worden war. «Nennen Sie mir, um des Himmels willen », rief ich aus, «die Methode - wenn überhaupt Methode darin ist -, von der Sie befähigt wurden, meine Seele in dieser Sache zu ergründen!» In Wahrheit war ich weit verblüffter noch, als ich hätte zum Ausdruck bringen mögen. «Es war der Obsthändler», erwiderte mein Freund, «der Sie zu dem Schluß brachte, der Sohlenflicker hätte nicht das ausreichende Format für Xerxes et hoc genas omne.f>

«Der Obsthändler? - Sie erstaunen mich - ich kenne ja überhaupt keinen Obsthändler!»

«Der Mann, der gegen Sie rannte, als wir in die Straße einbogen - es mag grad eine Viertelstunde her sein.» Ich besann mich nun. daß in der Tat ein Obsthändler, welcher einen ausladenden Korb Apfel auf dem Kopfe trug, mich versehentlich fast niedergeworfen hatte, als wir von der Rue C—-- in die Durchfahrt einbogen, in der wir gegenwärtig standen; was dies jedoch mit Chantilly zu tun habe, wollte mir durchaus nicht deutlich werden.

Es gab an Dupin nicht die mindeste Spur von charlatanerie. «Ich will Ihnen erklären», sagte er, «und damit Sie alles klar begreifen, wollen wir zuerst den Gang Ihrer Überlegungen zurückverfolgen, vom Augenblick, da ich Sie ansprach, bis zum rencontre mit dem in Rede stehenden Obsthändler. Die gröberen Glieder det Kette laufen folgendermaßen: - Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotornie, die Pflastersteine, der Obsthändler.»

Es gibt wenige Menschen, die nicht zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens daran Vergnügen gefunden haben, die Schritte zurückzuverfolgen, auf denen ihr Geist zu besondern Schlüssen gelangt war. Die Beschäftigung ist oftmals voller Interesse; und wer sich zum erstenmal an ihr versucht, ist wohl erstaunt über die anscheinend grenzenlose Entfernung und Unzusam-menhänglichkeit zwischen dem Ausgangspunkte und dem Ziel. Wie groß denn mußte meine Verwunderung sein, da ich den Franzosen jene Sätze sprechen hörte, die ich soeben vernommen, und nicht umhin konnte anzuerkennen, daß er die Wahrheit getroffen habe. Er fuhr fort:

«Wir hatten ein Gespräch über Pferde, wenn ich mich recht entsinne, just ehe wir die Rue C-—— verließen. Dies war der letzte Gegenstand, den wir erörterten. Als wir in diese Straße einbogen, warf ein Obsthändler, welcher mit einem großen Korbe auf dem Kopf eilig hinter uns anstürmte, Sie auf einen Haufen Pflastersteine, die an einem Fleck gesammelt lagen, wo der Straßendamm eine Ausbesserung erfährt. Sie traten auf einen der losen Brocken, strauchelten, verstauchten sich leicht den Knöchel, machten ein ungehaltenes oder verdrießliches Gesicht, murmelten ein paar Worte vor sich hin, wandten sich zu einem Blick auf den Haufen um und schritten dann schweigend weiter. Ich widmete Ihrem Tun keine sonderliche Aufmerksamkeit; doch ist Beobachten letzterzeit bei mir so etwas wie eine Notwendigkeit geworden.

«Sie hielten den Blick zu Boden gerichtet - musterten, mit einem Ausdruck des Unmuts, die Löcher und Geleise im Pflaster (so daß ich sah, Sie waren in Gedanken immer noch bei den Steinen), bis wir das kleine, Lamartine genannte Gäßchen erreichten, welches versuchsweise eine Reihenpflästerung aus fest eingefügten Blök-ken erhalten hatte. Hier erhellte sich Ihre Miene, und indem ich eine Bewegung Ihrer Lippen bemerkte, konnte ich nicht zweifeln, daß Sie das Wort <Stereo-tomie> murmelten, einen besonders gern auf diese Art Pflasterung angewendeten Ausdruck. Ich wußte aber, daß Sie das Wort < Stereotornie > nicht vor sich hin sprechen konnten, ohne auf den Gedanken an Atome gebracht zu werden und mithin auf die Theorien Epi-kurs; und da ich Ihnen, als wir unlängst diesen Gegenstand erörterten, die Erwähnung tat, wie einzigartig doch, ob schon mit geringem Aufsehen, die unsichern Mutmaßungen jenes ausgezeichneten Griechen in der neuern Nebel-Kosmogonie ihre Bekräftigung getroffen hätten, fühlte ich, daß Sie nun ganz unvermeidlich den Blick empor zur großen nebiilaim. Orion richten mußten, und erwartete mit Sicherheit, daß Sie es tun würden. Sie blickten in der Tat auch auf; und nun hatte ich die Bestätigung, daß ich Ihren Gedanken-Schritten korrekt gefolgt war. Aber in jener bitterlichen tirade auf Chan-tilly, die im gestrigen <Musee> erschien, zitierte der Spötter gelegentlich einiger hämischer Anspielungen auf des Schuhmachers Namenswechsel beim Besteigen des Kothurns eine lateinische Verszeile, über die wir uns oft unterhielten. Ich meine den Satz

Perdidit antiquum littera prima sonum.

Ich hatte Ihnen mitgeteilt, daß dies sich auf Orion bezöge, früher Urion geschrieben; und von gewissen, mit dieser Erklärung verbundnen Spitzigkeiten nahm ich die Überzeugung, daß Sie es nicht vergessen haben konnten. Es war daher klar: Sie mußten die beiden Gedanken Orion und Chantilly in Verbindung bringen. Daß Sie das wirklich taten, ersah ich aus der Art des Lächelns, das über Ihre Lippen glitt. Sie dachten an des armen Schusters Abschlachtung. Bis dahin waren Sie in leicht gebeugter Haltung geschritten; nun jedoch sah ich Sie sich zu voller Höhe aufrichten. Da war ich gewiß, daß Ihre Gedanken bei der dürftigen Gestalt Chantillys weilten. An diesem Punkt unterbrach ich Ihre Überlegungen mit dem Bemerken, wie er doch in der Tat ein sehr kleiner Kerl wäre - jener Chantilly - und daß er besser für das Théatre des Variétés geeignet sei »  - Edgar Allan Poe, Die Morde in der Rue Morgue. In: E. A. P., Werke I. Olten und Freiburg i. Br. 1966 (Übs. Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Hg. Kuno Schumann, Hans Dieter Müller)

Gedankenlesen  (5)  Von dem Psychologen Ray Hyman (der übrigens wie viele andere Autoren des Skeptical Inquirer ein talentierter Zauberer ist) stammt ein Auufsatz mit dem Titel „Gedankenlesen: Wie man fremde Leute glauben machen kann, daß man alles über sie weiß".

Der Artikel beginnt mit der Diskussion eines Kurses über Methoden der Manipulation von Menschen, den Hyman abgehalten hatte. Hyman berichtet:

Ich lud mehrere Manipulationskünstler ein, ihre Techniken zu demonstrieren - Straßenhändler, Hausverkäufer von Enzyklopädien, Hypnotiseure, Werbefachleute, Evangelisten, Hochstapler und alle Arten von Therapeuten. Die diskutierten Techniken, vor allem die aus der Helfer-Branche, schienen mit der Tendenz des Klienten zu arbeiten, jeder Situation mehr Bedeutung beizumessen als ihr tatsächlich zukommt. Die Studenten waren mit dieser Erklärung sofort einverstanden. Aber ich hatte nicht das Gefühl, daß sie sich über die Tragweite dieser menschlichen Tendenz, aus Unsinn Sinn zu machen, im klaren waren.

Dann beschreibt Hyman die Bereitschaft der Leute, zu glauben, was andere über sie sagen. Seine „goldene Regel" lautet: „Um bei jemandem gut angeschrieben zu sein, sagen Sie ihm, was er hören will. Er möchte aber von sich selber hören. Also sagen Sie ihm etwas über ihn selber. Aber nicht das, was Sie für wahr halten. Oh nein! Sagen Sie ihm niemals die Wahrheit. Sagen Sie ihm lieber das, wovon er gern hätte, daß es die Wahrheit über ihn wäre!" Als Beispiel zitiert Hyrnan folgende Passage (die zufällig auf niemanden anders gemünzt ist als auf Sie, lieber Leser!]:

Einige Ihrer angestrebten Ziele sind ziemlich unrealistisch. Manchmal sind Sie extrovertiert, leutselig, zugänglich, manchmal introvertiert, müde und reserviert. Sie haben die Erfahrung gemacht, daß es unklug ist, sich dem anderen gegenüber zu öffnen. Sie brüsten sich, ein unabhängiger Kopf zu sein und akzeptieren die Meinung anderer nicht ohne zureichende Prüfung. Sie ziehen eine gewisse Abwechslung vor und fühlen sich bei jeder Einschränkung unwohl. Manchmal haben Sie ernste Zweifel, ob Sie die richtige Entscheidung getroffen haben oder das Richtige getan haben. Nach außen diszipliniert und kontrolliert, sind Sie innerlich eher unruhig und unsicher.

Im allgemeinen sind Sie in der Lage, Ihre Schwächen auszugleichen. Sie haben viel ungenutzte Kapazität, aus der Sie kein Kapital schlagen. Sie sind eher selbstkritisch. Sie brauchen Leute, die Sie mögen und anerkennen.

Nicht schlecht, wie? Hyman kommentiert:

Besonders schön ist Hymans 13-Punkte-Rezept für angehende Gedankenleser. Unter anderen gibt er folgende Tips: „Benutzen Sie die Technik des Aushorchens (den Betreffenden dazu bringen, Ihnen von sich zu erzählen, und die gewonnene Information in anderer Verpackung zurückgeben); erwecken Sie stets den Eindruck, als wüßten Sie mehr, als Sie sagen; haben Sie keine Hemmungen, dem Betreffenden bei jeder Gelegenheit zu schmeicheln." Dieses zynische Handbuch des Gedankenlesers wird von Hyman bis ins einzelne vorgestellt, natürlich nicht, um aus den Lesern des Artikels Scharlatane und Schwindler zu machen, sondern um die manipulativen Tricks offenzulegen. Hyman fragt:

Warum funktioniert es so gut? Es hilft nicht weiter, zu sagen, daß die Leute leichtgläubig und beeinflußbar sind. Es ist auch nicht mit der Erklärung getan, daß einige Leute nicht scharf genug unterscheiden oder es ihnen zum Durchblick an Intelligenz ermangelt. Im Gegenteil, man kann sagen, daß es zum Funktionieren einer gewissen Intelligenz des Klienten bedarf... Wir müssen unser Wissen und unsere Erwartungen in eine Ordnung bringen, um überhaupt etwas in unserer Welt zu verstehen. Meistens werden wir durch Kontext und Erinnerung in  die Lage versetzt, Aussagen richtig zu interpretieren. Doch dieser wichtige Mechanismus läuft Amok, sobald er sich an keinem wirklichen Sinn bewähren kann. Dann vernehmen wir Sinn, wo nur Rauschen ist. Dasselbe System also, das es uns ermöglicht, neue Bedeutungen zu finden und Entdeckungen zu machen, macht uns auch für alle möglichen Manipulationen anfällig. Beim Gedankenlesen mag sich der Manipulierende noch seines Täuschungsmanövers bewußt sein; oft aber ist er das Opfer seiner eigenen Selbsteinschätzung.

- Douglas R. Hofstadter, Metamagicum. Stuttgart 1991

Magie Lesen Gedanke Durchsichtigkeit
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Unergründlich Durchsichtigkeit