Gedankenfraß   Noch während er aufwacht, die Augen reibt, nach der Brille greift und sich vom Zeitdienst die Zeit durchsagen läßt, hat Edmund keine Ahnung. Er schaut durch die Tür hinüber ins Arbeitszimmer, sieht  einen  halben Zeichentisch, sieht  eine  Staffelei,  ein  Stück schwarzer Couch und auf dem Couchtisch überfüllte Aschenbecher; wie bei der Bundesbahn, denkt er, dann fällt ihm ein, daß unter dem Couchtisch seit Tagen drei Fetzen von Orangenschalen liegen; zehnmal ging er vorbei, überlegend, ob er sich bücken sollte, und entschied immer: warte bis es mehr sind; aus dem großen Regal ist die Chagall-Mappe gefallen, ein rosa Pferd trabt in die Luft; gestern abend hätte er den Mülleimer hinunterstellen sollen; er sieht alle Handgriffe und Bewegungen vor sich, die nötig sind, wenn er sich ein Frühstück machen will; Ränder aus den Tassen spülen; Lerry kann leider mit Geschirr nicht umgehen; unfaßbar, wie lange es dauert, wenn man zusieht, bis der Wasserstrahl aus dem Hahn die Teekanne gefüllt hat, riesig werden die Brotflächen, wenn man sie genau und gleichmäßig beschmieren will; über der Staffelei hängt ein Shawl, wer hat den bloß? und das Zeitungsgeld, das Frau Reisiger ausgelegt hat; liegt eigentlich jemand auf der Couch drüben? Die sind doch alle gegangen heute nacht; Diskussionsfetzen hängen noch im Raum herum wie zur Unsterblichkeit verdammte Rauchfahnen. Der Film ist die Kunst, die ... das war Anna, natürlich, seit der Film auf sie aufmerksam geworden ist. Hemingway ist das Schöne ist der Papst ist die Pointe des Ganzen ist der Kommunismus ist mein Anliegen ist der Tourismus ist Faulkner ist das Tragische heute ist der Kunststoff ist Berlin ist das Dumme ist das Ausland ist Schostakowitsch ist das Merkwürdige ist Kardinal Frings ist der Film möchte ich damit nur sagen was ich nicht gesagt haben möchte ich heute nicht mehr behaupten der Film mit Hemingway ist das Schöne ist der Papst ist heute nur noch der Film ist heute der Film ist heute der Film ... Pawel  anrufen? Vielleicht nachmittags, oder morgen.  Mach Dir nichts vor. Du bist wieder herausgerutscht aus diesem Tag und aus dem nächsten Tag, mach Dir nichts vor, es ist wieder soweit, Du kannst die vier Treppen nicht mehr hinunter, Du kannst das Lindgrün nicht mehr sehen, wenn man auch Mietshäuser freundlich anstreichen will,  schlimmer als Elefantengrau und Tarnanstrich, aber mach Dir nichts vor, es ist nicht die Hausfarbe, auch nicht die vier Treppen sind es, nicht die Orangenschalen unterm, und die vollen Aschenbecher, mach Dir doch nichts, genau so wenig wie der ShawL der Chagall, Du weißt es doch, das Frühstück, wenn man mit den Gedanken so weit in den Tag hineinrennt, und mit den Händen muß man, Löffel hier, Unterteller im Sieb, und wo die Butter, so Millimeter um Millimeter sich durcharbeiten, bis; man bloß am Tisch sitzen und Tee trinken kann, aber das ist es doch nicht. Edmund hatte Erfahrung, Ein Käfer kann wenigstens noch seine Beine zählen, wenn er auf dem Rücken liegt, sagte  Edmund, vielleicht kann er sogar Spiele veranstalten mit seinen Beinen, ob sich Bein eins mit Bein vier und Bein zwei mit Bein sieben und Bein drei mit Bein sechs treffen kann, wobei Bein acht und Bein fünf sich auswärts biegen, daß man sie aus dem Gesicht verliert, oh, da gäbe es Kombinationen, die mich wochenlang faszinieren  könnten,  glücklicher Gregor,  sagte  Edmund,  glücklicher Gregor, ich aber habe nur den Gedankenfraß, dem ich ausgeliefert bin, der ohne Hast durch mich hindurchzieht, er weiß ja, ich bleib' ihm liegen wie kein anderer Kadaver.  - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)
 

Gedanke


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