edächtnis
In einem kleinen Kurort in der Nähe der majestätischen Iguaçufälle
im sogenannten mesopotamischen Gebiet an der Grenze zwischen
Argentinien, Brasilien und Paraguay erholte sich der große
zeitgenössische amerikanische Neurophysiologe Geoffrey
Sonnabend von schwerer körperlicher Erschöpfung und einer
Art Nervenzusammenbruch (zum Teil Folge des Scheiterns seiner
früheren Untersuchungen über die Gedächtnisbahnen bei Karpfen).
Am Abend hatte er ein Konzert der großen rumänisch-amerikanischen
Sängerin Madalena Delani besucht, die Lieder der deutschen Romantik
vortrug. Die Delani, damals eine der führenden Solistinnen auf
internationalen Gastspielen, hatte wiederholt Lob von Fachleuten
wie dem Musikkritiker der New York Times, Sidney Soledon, geerntet.
Dieser äußerte die Vermutung, das unvergleichlich schwermütige
Timbre ihrer Stimme - er nannte sie »durchtränkt von einem Gefühl
der Verlorenheit« - sei möglicherweise darauf zurückzuführen,
daß die Sängerin an einer Form des Korsakow-Syndroms litt und
infolgedessen praktisch alle kurz- und mittelfristige Merkfähigkeit
eingebüßt hatte, ihr musikalisches Gedächtnis ausgenommen.
Geoffrey verließ an diesem Abend zwar den Konzertsaal, ohne der Delani auch nur vorgestellt worden zu sein, aber der Liedervortrag hatte ihn elektrisiert, und in der folgenden schlaflosen Nacht entwarf er wie in einem Rausch das gesamte Modell der Überschneidung von Ebene und Kegel, das die Grundlage für seine radikale neue Gedächtnistheorie bilden sollte, die er während der nächsten zehn Jahre für sein dreibändiges Werk Obliscence: Theories of Forgetting and the Problem of Matter (Northwestern University Press, Chicago 1946) mit größter Sorgfalt ausarbeitete. In Sonnabends Augen war das Gedächtnis eine Illusion. Das Vergessen, nicht das Erinnern, war das zwangsläufige Ergebnis allen Erlebens. In der Einleitung zu seinem pompösen Meisterwerk erklärte er demgemäß: »Wir, die wir allesamt mit Amnesie geschlagen und dazu verurteilt sind, in einer ewig flüchtigen Gegenwart zu leben, sind Schöpfer der aufwendigsten menschlichen Konstruktion, nämlich des Gedächtnisses, das uns gegen das unerträgliche Bewußtsein von der Unwiderruflichkeit des Zeitflusses und von der Unwiederbringlichkeit zeitlicher Augenblicke und Ereignisse abschirmen soll«. Diese Überzeugung führte er im folgenden weiter aus, indem er ein immer komplizierteres Modell entwickelte, bei dem ein sogenannter Kegel des Vergessens von Ebenen der Erfahrung durchschnitten wird, die ihn mit unterschiedlichen, aber genau bestimmbaren Neigungswinkeln zerteilen. Ihren größten Reiz entfaltete die Theorie vielleicht dort, wo sie so unheimliche, zwielichtige Phänomene wie Vorahnungen, Dejá-vu-Erlebnisse und Prophezeiungen aufgriff. Sobald aber die Ebene eines bestimmten Erlebnisses den Kegel passiert hatte, war das Erlebnis unwiederbringlich vergessen - und alles andere war Illusion. Als melancholische Pointe dieser Schlußfolgerung mag gelten, daß Sonnabend - und mit ihm sein Opus magnum, kaum daß es erschienen war - fast gänzlich dem Vergessen anheimfiel.
Ebene der Erfahrung, den Kegel des Vergessens durchschneidend
- (
wesch
)
Gedächtnis (2) William James, um
zu zeigen, daß Denken ohne Sprechen
möglich ist, zitiert die Erinnerung eines Taubstummen, Mr. Ballard,
welcher schreibt, er habe in seiner frühen Jugend, noch ehe er
sprechen konnte, sich über Gott und die
Welt Gedanken
gemacht. - Was das wohl heißen mag! - Ballard schreibt: »It was
during those delightfül rides, some two or three years before
my initiation into the rudiments or written language, that I
began to ask myself the question: how came the world into being?«
— Bist du sicher, daß dies die richtige Übersetzung
deiner wortlosen Gedanken in Worte ist? - möchte man fragen.
Und warum reckt diese Frage — die doch sonst gar nicht zu existieren
scheint - hier ihren Kopf hervor? Will ich sagen, es täusche
den Schreiber sein Gedächtnis? — Ich weiß nicht einmal, ob ich
das sagen würde. Diese Erinnerungen
sind ein seltsames Gedächtnisphänomen — und ich weiß nicht, welche
Schlüsse auf die Vergangenheit des
Erzählers man aus ihnen ziehen kann! - (
wit
)
Gedächtnis (3) Dann begann die allmähliche Umformung meiner Träume. Mir wurden keine prächtigen Alpträume zuteil wie De Quincey, noch fromme allegorische Visionen nach Art seines Meisters Jean Paul. Unbekannte Gesichter und Räume drangen in meine Nächte. Das erste Gesicht, das ich identifizierte, war das von Chapman; später das von Ben Jonson und das eines Nachbarn des Dichters, der in den Biographien nicht erwähnt wird, mit dem Shakespeare aber oft verkehrte.
Wer eine Enzyklopädie erwirbt, erwirbt nicht jede Zeile, jeden Abschnitt, jede Seite und jeden Strich; er erwirbt die bloße Möglichkeit, das eine oder andere davon kennenzulernen. Wenn dies schon bei einem konkreten und, dank der alphabetischen Abfolge der Teile, relativ einfachen Gegenstand so ist, wie soll es da mit einem abstrakten und variablen Wesen sein, ondoyant et divers, wie dem magischen Gedächtnis eines Toten?
Niemandem ist es gegeben, in einem einzigen Moment die Fülle seiner Vergangenheit zu erfassen. Weder Shakespeare, soweit ich weiß, noch mir, der ich sein Teil-Erbe war, wurde diese Gabe gewährt. Augustinus spricht, wenn ich mich nicht irre, von den Palästen und Höhlen der Erinnerung. Die zweite Metapher ist treffender. In diese Höhlen drang ich ein.
Wie unseres umfaßte Shakespeares Gedächtnis Zonen, große Zonen des Schattens, von ihm absichtlich verdrängt. Nicht ohne gewisse Empörung erinnerte ich mich, daß Ben Jonson ihn lateinische und griechische Hexameter rezitieren ließ und daß sich das Gehör, Shakespeares unvergleichliches Ohr, oft bei einer Quantität irrte, unter dem Hohngelächter der Kollegen.
Ich erfuhr Zustände von Glück und Schatten, die die gewöhnliche Erfahrung des Menschen überschritten. Ohne daß ich es gewußt hätte, hatte mich die lange, lernbeflissene Einsamkeit vorbereitet, das Wunder gierig aufzunehmen.
Nach etwa dreißig Tagen belebte mich das Gedächtnis des Toten.
Eine ganze Woche voll seltsamer Seligkeit glaubte ich beinahe,
Shakespeare zu sein. Das Werk erneuerte sich für mich.
Ich weiß, daß für Shakespeare der Mond
weniger der Mond war als Diana, und weniger Diana als jenes dunkle,
weilende Wort moon. Ich notiere eine weitere Entdeckung.
Shakespeares scheinbare Nachlässigkeiten, jene absences dans
l'infini, von denen Hugo entschuldigend spricht, waren
beabsichtigt. Shakespeare nahm sie hin. - Jorge
Luis Borges, Shakespeares Gedächtnis. In: Spiegel und Maske.
Erzählungen 1970 bis 1983. Frankfurt am Main 2000 (Fischer Tb.
10589).
Gedächtnis (4) Eines Nachts wurden alle Gehirne träge und schwerfällig und am nächsten Morgen wachte ein jeder auf, ohne sich auch nur im geringsten an das Vergangene zu erinnern. Einige Dikasterier, die neben ihren Frauen schliefen, wollten sich diesen aus einem vom Gedächtnis unabhängigen Rest von Naturtrieb nähern. Die Frauen, die nur sehr selten aus natürlichem Instinkt ihre Ehemänner umarmen, wiesen die widerlichen Zärtlichkeiten erbittert zurück. Die Ehemänner wurden böse, die Frauen schrien und weinten, und in den meisten Familien prügelte man sich.
Als den Herren ihr Barett in die Hand fiel, bedienten sie sich seiner für bestimmte Bedürfnisse, die weder das Gedächtnis noch der Verstand regeln, und die Damen benutzten die Näpfe und Flakons ihrer Toilettentische für die gleichen Zwecke. Die Dienstboten entsannen sich nicht mehr des Vertrags, den sie mit ihren Herren geschlossen hatten, und betraten deren Zimmer, ohne zu wissen, wo sie waren. Da der Mensch von Natur jedoch neugierig ist, öffneten sie alle Schubladen, und da der Mensch natürlicherweise den Glanz des Silbers und des Goldes liebt, ohne daß er dazu des Gedächtnisses bedürfe, nahmen sie sich alles, was ihnen unter die Finger kam. Ihre Herren wollten rufen: »Haltet den Dieb!« Doch da ihren Hirnen der Begriff für »Dieb« entfallen war, kamen sie nicht auf das Wort. Ein jeder hatte seine Sprache vergessen und stammelte unartikulierte Laute, so daß es viel schlimmer zuging als in Babel, wo jeder augenblicklich eine neue Sprache erfand. Die jungen Dienern angeborene und ihnen eigene Neigung zu hübschen Weibern regte sich so heftig, daß diese Unverschämten sich blindlings auf die ersten besten Frauen oder Mädchen stürzten, ob es nun Kellnerinnen oder Präsidentinnen waren; und da sich diese nicht mehr an ihre Gebote der Sittsamkeit erinnerten, ließen sie die Männer frei gewähren.
Sie mußten auch essen, doch wußte keiner mehr, wie man das anstellt; niemand
war auf dem Markt gewesen, um etwas zu verkaufen oder um zu kaufen. Die
Diener hatten die Kleider der Herren angezogen und die Herren die der
Diener. Alle glotzten sich stumpfsinnig an. Diejenigen, die findiger
waren und sich das Notwendigste zu verschaffen wußten - und das waren
die Leute aus dem Volk -, trieben etwas auf, wovon sie leben konnten;
den anderen aber mangelte es an allem. Der erste Präsident
und der Erzbischof liefen völlig nackt herum,
und ihre Stallknechte trugen entweder rote Roben oder Dalmatiken, liturgische
Gewänder. - (
vol2
)
Gedächtnis (5) Feindliches Gedächtnis. Der Geist verliert sich in der Erinnerung nicht aussprechbarer Wörter, zu weit entfernt vom Herzen.
Er nimmt das alte Buch wieder zur Hand, entdeckt die erwünschte Präsenz. Horridas nostrae mentis purga tenebras. *
Freundschaftliches Gedächtnis. Die kostbare Substanz, die es von
ihren Schlacken zu reinigen gilt, liegt im Chaos der ursprünglichen
Rede, dieses anonymen Tumults. Er hatte sich zu seinem Sprecher gemacht
ohne sich darum zu bemühen, auch nur einen einzigen versunkenen Ton
hören zu lassen. Die zu leistende Anstrengung erscheint übermäßig,
Accende lumen sensibus, **
* Reinige die schrecklichen Finsternisse unseres Geistes
** Entzünde ein Licht unseren Sinnen
- Robert Pinget, Der Feind. Berlin 1988
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