Geburtsanzug  »Bei meiner Geburt war ein gewisser Polizist zugegen, der die Gabe der Windbeobachtung besaß. Diese Gabe Ist heute sehr rar geworden. Als ich eben geboren war, ging er nach draußen und untersuchte die Farbe des Windes, der über dem Hügel wehte. Er hatte einen geheimen Beutel voller gewisser Materialien und Flaschen und auch Sehn ei de r Werkzeuge bei sich. Er blieb etwa zehn Minuten lang draußen. Als er wieder herein kam, hatte er einen kleinen Anzug m der Hand und gebot meiner Mutter, ihn mir anzuziehen.« »Woher hatte er diesen Anzug?« fragte ich erstaunt. »Er hatte ihn heimlich selbst auf dem Hinterhof angefertigt, sehr wahrscheinlich im Kuhstall. Der Anzug war sehr dünn und zart wie allerfeinstes Spinnweb. Man sieht ihn gar nicht, wenn man ihn gegen das Licht hält, aber wenn man ihn in einem gewissen Winkel betrachtet, kann man manchmal zufällig den Umriß erkennen. Es war die reinste und vollkommenste Offenbarung einer hellgelben Außenhaut. Und dieses Gelb war die Farbe meines Geburtswindes.«

»Aha«, sagte ich.

Eine wunderbare Vorstellung.

 »Immer, wenn ich Geburtstag hatte«, sagte der alte Mathers, »bekam Ich einen neuen kleinen Anzug von derselben Qualität, welcher über den vorigen gezogen wurde, statt ihn abzulösen. Sie werden sich einen Begriff von der äußersten Feinheit des Gewebes machen können, wenn ich Ihnen sage, daß ich sogar noch Im Alter von fünf Jahren mit fünf übereinander gezogenen Anzügen völlig nackt wirkte. Es handelte sich dabei jedoch um eine unnatürlich gelbliche Art Nacktheit. Natürlich konnte man noch andere Kleidungsstücke über dem Anzug tragen. Ich trug für gewöhnlich einen Überrock. Aber jedes Jahr bekam ich einen neuen Anzug.«

»Wo bekamen Sie sie?« fragte ich.

»Von der Polizei. Man brachte sie mir ins Haus, bis ich alt genug war, sie mir auf der Revierwache abzuholen.« »Und auf welche Weise befähigt Sie all dies dazu, die Dauer eines Menschenlebens vorherzusagen?«

»Das will ich Ihnen erklären. Gleichgültig, welche Farbe Sie haben, sie wird immer treulich auf dem Geburtsanzug ausgewiesen. Jahr um Jahr, Anzug um Anzug um Anzug wird die Farbe dunkler und ausgeprägter. Ich für mein Teil hatte mit fünfzehn ein strahlendes, klares Gelb erreicht, obwohl die Farbe zur Zelt meiner Geburt so hell war, daß man sie kaum bemerkte. Ich nähere mich jetzt den Siebzig, und die Farbe ist hellbraun geworden. Je mehr Anzüge ich in den Jahren, die noch vor mir liegen, anlegen werde, desto mehr wird sich die Farbe zu einem dunklen Braun vertiefen, dann zu einem stumpfen Mahagoni und schließlich zu jener sehr dunklen Bräune, die man gemeinhin mit Stout in Verbindung bringt.« »Ja?«

»Kurz: die Farbe dunkelt allmählich Jahr um Jahr und Anzug für Anzug, bis sie tiefschwarz erscheint. Schließlich kommt ein Tag, an dem ein einziger weiterer Anzug eine richtige, volle Schwärze bewirkt. An dem Tag werde ich sterben.«   - (obr)

 

Geburt Anzug

 

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