Gartenterror  Während die glühenden und knisternden Flaschen auf allen Tischen und Fenstersimsen vibrierten, bis sie zersprangen, schien schon die nächste Invasion von Obst an die Treppenstufen des Hauses zu quellen; längst war das Gehen auf irgendeinem Platz der Wohnung unmöglich geworden, im seifenglatten Matsch auf den Dielen rollten Birnen und Äpfel als Fußfallen, und die Flottenstärke der obstgefüllten Handwagen, Wannen, Wäschekörbe, die den Hof eingenommen hatten, war ins Unübersehbare gewachsen. Ich schmiedete wilde Pläne ... nachts träumte ich verzweifelt von Meeren, über die ich unter der wehenden Kaperflagge immer weiter fort floh, in Regionen, wo es weder häusliches Gerät noch kleinstädtische Gartenanlagen gab ... ach, es war umsonst, wenn ich in der Dunkelheit, gehüllt in das vom klebrigen Most durchfleckte Nachthemd, hinabschlich, um mich mit den Ziegen und Schweinen gegen die feindliche Macht zu verbünden: indem ich ihnen die Gatter öffnete und sie auf die Obstfracht losließ ... wenn man mich dafür strafte, so nicht, weil ich die Ernte gefährden konnte, sondern weil ich die Haustiere mittels Durchfällen umzubringen drohte. - Tagsüber, unter der noch brennenden Sonne, reiften die Früchte auf dem Hof zu Ende ... längst faulten in der Entlegenheit des Waschhausschattens vergessene Fahrzeuge voller früher Birnen, wenn schon weiter vorn die mittleren und späten Sorten den Hof okkupierten ... das Pflaster verwandelte sich in einen Sumpf von gelber Süße, Honig und Sirup troffen zwischen den sich zersetzenden Wagenbrettern hervor und versanken in trägen Bächen in den Gossen. Die Eimer rosteten, und die Körbe schienen zu schwimmen in einem einzigen Teich von glänzender Melasse, die den Hof unbetretbar machte. Das unbesiegbare Obst, nachdem es den Entsafter und seine Erfinder der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, begann nun plötzlich von allein zu fließen, aus eigener Lust floß der Met der Obstsäfte und schien sogar die Behältnisse in Schmelzfluß zu versetzen; das Obst überspülte den Hof mit einer Glasur, in der sieh riesenhafte Wespen- und Fliegenschwärme spiegelten, die allein keine Furcht vor der irdischen Süße kannten, und deren Heerscharen erst abzogen, wenn die Säfte zu Essig geworden waren. Wenn die blaue Essigflut den Hof im Mondschein in ein höllisches Areal verwandelte, wenn aus falscher Süße die wahre Säuernis herausgegoren war, in der man seiner Tränen nicht mehr Herr sein konnte, in der sich alle Menschenhaut verzweifelt zu kräuseln und zu sträuben begann, dann war es plötzlich, als sei es mit der Jugend ein für allemal vorbei. - Wenn von Grün nach Schwarz übergehender Schimmel endlich die Oberhand gewann, waren wir längst untergegangen ... tiefe Müdigkeit hockte in unseren Herzen, und wir hatten Mühe, sie nicht hervorbrechen zu lassen, wir saßen herum, und unsere zerfressenen Schuhe klebten an den Fußböden, nahtlos wie der Irrsinn an der scheinheiligen Ruhe unserer Reden, wir waren zu entkräftet, um noch einen Finger zu rühren, und die Trägheit in unseren Adern war von nichts mehr zu verdünnen. - Zu dieser Zeit wurde es schon kalt, die letzten Säfte im Hof glommen schon wie Spiegeleis, bald mußte Schnee auf Schimmel und Fäulnis fallen. Der Garten nutzte die Zeit zum Nachschöpfen seiner Kräfte, der Garten atmete weiter in seiner Überlegenheit, sein entlaubtes und verworrenes Geäst ragte in den hinterhältigen Glitzer des Sternenhimmels ... und droben, wie um uns zu verhöhnen, am höchsten Zweig im unerreichbaren Wipfel des größten der Bäume leuchtete ein einziger knallrot gefrorener Apfel, der allen Versuchen, ihn zu pflücken, widerstanden hatte.   - Wolfgang Hilbig, Die Flaschen im Keller. In: W.H., Der Schlaf der Gerechten. Frankfurt am Main 2003
 
 

Garten Terror

 

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