alionsfigur  Die Büste thronte im Halbdunkel eines Hinterzimmers, eingerahmt von magischen Laternen und Jugendstilbronzen. In den Schaufenstern von Wäschegeschäften dienen solche Büsten dazu, Büstenhalter auszustellen. Diese hier war von einem ungezügelten Geist in den phantastischsten Kunstgegenstand verwandelt worden, den man sich erträumen kann: ein ungewöhnliches Stück, Teil einer Sirene, irgendeiner grauenhaften Galionsfigur irgendeines Geisterschiffs, liebkost von glitschigen Algen und bunten Muscheln. Wie erstarrte Küsse. Ohne Kopf, ohne Arme, die Kehle dem Messer des Opferpriesters theatralisch dargeboten, über und über bedeckt von Meeresmuscheln und Schnecken, die sich zum Teil überlappten, starr, aber scheinbar immer von Wogen des Meeres bewegt. - Léo Malet, Die Ratten im Mäuseberg. Reinbek bei Hamburg 1993

Galionsfigur (2)  Ein üppig hölzernes, grün nacktes Weib, das unter erhobenen Armen, die sich lässig und alle Finger zeigend verschränkten, über zielstrebigen Brüsten hinweg aus eingelassenen Bernsteinaugen geradeaussah. Dieses Weib, die Galionsfigur brachte Unglück. Der Kaufmann Portinari gab die Skulptur in Auftrag, ließ sie nach den Maßen eines flämischen Mädchens, das ihm nahe lag, von einem Holzbildhauer anfertigen, der im Schnitzen von Galionsfiguren einen Namen hatte. Kaum hing die grüne Figur unter dem Bugspriet der Galleide, wurde dem Mädchen, wie damals üblich, wegen Hexerei der Prozeß gemacht. Bevor sie lichterloh brannte, beschuldigte sie, peinlich befragt, noch ihren Gönner, den Kaufmann aus Florenz und gleichfalls den Bildhauer, der ihr so gut Maß genommen hatte. Portinari, so hieß es, erhängte sich, weil er das Feuer fürchtete. Dem Bildhauer hackten sie beide begabten Hände ab, damit er in Zukunft nicht weiterhin Hexen zu Galionsfiguren machte. Noch während die Prozesse in Brügge liefen und Aufsehen erregten, denn Portinari war ein reicher Mann, geriet das Schiff mit der Galionsfigur in Paul Benekes Seeräuberhände. Signore Tani, der zweite Kaufmann, fiel unter einem Enterbeil, Paul Beneke war der nächste: wenige Jahre später fand er bei den Patriziern seiner Vaterstadt keine Gnade mehr und wurde im Hof des Stockturmes ersäuft. Schiffe, denen man nach Benekes Tod die Galionsfigur an den Bug montierte, brannten schon im Hafen, kurz nach der Montage, andere Schiffe in Brand steckend, ab; bis auf die Galionsfigur selbstverständlich, die war feuerfest und fand wegen ihren ausgewogenen Formen immer wieder Liebhaber unter den Schiffseignern. Kaum nahm jedoch das Weib ihren angestammten Platz ein, dezimierten sich hinter ihrem Rücken in Meuterei ausbrechend die vormals friedfertigsten Schiffsmannschaften. Die erfolglose Fahrt der Danziger Flotte unter der Leitung des hochbegabten Eberhard Ferber gegen Dänemark im Jahre fünfzehnhundertzwei-undzwanzig führte zum Sturz Ferbers, zu blutigen Aufständen in der Stadt. Zwar spricht die Geschichte von religiösen Streitigkeiten — dreiundzwanzig führte der protestantische Pastor Hegge die Menge zum Bildersturm auf die sieben Pfarrkirchen der Stadt an — wir aber wollen der Galionsfigur die Schuld an diesem noch lange nachwirkenden Unglück geben: sie schmückte den Bug des Ferberschen Schiffes. Als fünfzig Jahre später Stephan Bathory die Stadt vergeblich belagerte, gab Kaspar Jeschke, der Abt des Klosters Oliva, Bußpredigten haltend, der Galionsfigur, dem sündhaften Weib die Schuld. Der Polenkönig hatte sie von der Stadt zum Geschenk erhalten, führte sie mit sich in seinem Feldlager, ließ sich von ihr schlecht beraten. Inwieweit die hölzerne Dame die Schwedenfeldzüge gegen die Stadt beeinflußte, die jahrelange Kerkerhaft des religiösen Eiferers Dr. Ägidius Strauch, der mit den Schweden konspirierte, auch die Verbrennung des grünen Weibes, das wieder in die Stadt zurückgefunden hatte, forderte, wissen wir nicht. Eine etwas dunkle Nachricht will besagen, daß ein aus Schlesien geflohener Poet mit Namen Opitz einige Jahre Aufnahme in der Stadt fand, jedoch allzufrüh verstarb, weil er die verderbliche Schnitzerei in einem Speicher aufspürte und mit Versen zu besingen versuchte.

Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, zur Zeit der polnischen Teilungen, erließen die Preußen, die sich gewaltsam der Stadt bemächtigen mußten, ein königlich-preußisches Verbot gegen die »hölzern Figur Niobe«. Zum erstenmal wurde sie urkundlich beim Namen genannt und sogleich in jenem Stockturm, in dessen Hof der Paul Beneke ersäuft worden war, von dessen Galerie aus ich meinen fernwirkenden Gesang erstmals erfolgreich probiert hatte, evakuiert oder besser eingekerkert, damit sie sich angesichts der ausgesuchtesten Produkte menschlicher Phantasie, den Folterinstrumenten gegenüber, das ganze neunzehnte Jahrhundert lang ruhig verhielt.

Als ich im Jahre zweiunddreißig auf den Stockturm kletterte und mit meiner Stimme die Foyerfenster des Stadttheaters heimsuchte, hatte man Niobe — vom Volksmund »Dat griehne Marjellchen« oder »De griehne Marjell« genannt — schon seit Jahren und Gottseidank aus der Folterkammer des Turmes entfernt. Wer weiß, ob mir sonst der Anschlag auf das klassizistische Bauwerk geglückt wäre?

Es muß ein unwissender, ein zugereister Museumsdirektor gewesen sein, der Niobe aus der sie im Zaume haltenden Folterkammer holte und kurz nach der Gründung des Freistaates im neueingerichteten Schiffahrtsmuseum ansiedelte. Bald darauf starb er an einer Blutvergiftung, die sich der übereifrige Mann beim Befestigen eines Schildchens zugezogen hatte, auf dem zu lesen stand, daß oberhalb der Beschriftung eine Galionsfigur, auf den Namen Niobe hörend, ausgestellt sei. Sein Nachfolger, ein vorsichtiger Kenner der Geschichte der Stadt, wollte Niobe wieder entfernen. Der Stadt Lübeck gedachte er das gefährliche hölzerne Mädchen zu schenken, und nur weil die Lübecker dieses Geschenk nicht annahmen, hat das Städtchen an der Trave, bis auf seine Backsteinkirchen, den Bombenkrieg verhältnismäßig heil überstanden.

Niobe oder »De griehne Marjell« blieb also im Schiffahrtsmuseum und bewirkte während des Zeitraumes von knapp vierzehn Jahren Museumsgeschichte den Tod zweier Direktoren — nicht den des vorsichtigen Direktors, der hatte sich versetzen lassen — den Hingang eines älteren Priesters zu ihren Füßen, die gewaltsamen Abschiede eines Studenten der Technischen Hochschule, zweier Primaner der Petri-Oberschule, die das Abitur gerade glücklich bestanden hatten, und das Ende von vier zuverlässigen, zumeist verheirateten Museumswärtern.

Man fand alle, auch den technischen Studenten, verklärten Gesichtes mit scharfen Gegenständen jener Machart in der Brust vor, wie man sie nur im Schiffahrtsmuseum finden konnte: Segelmesser, Enterhaken, Harpunen, die feinzisilierten Speerspitzen von der Goldküste, Nähnadeln für Segeltuchmacher; und nur der letzte Primaner hatte zuerst zu seinem Taschenmesser und dann zum Schulzirkel greifen müssen, da man kurz vor seinem Tode alle scharfen Gegenstände des Museums entweder an Ketten gelegt oder hinter Glas verwahrt hatte.

Obgleich die Kriminalisten der Mordkommissionen bei jedem Todesfall von tragischem Selbstmord sprachen, hielt sich in der Stadt und auch in den Zeitungen ein Gerücht, welches besagte: »Dat macht de griehne Marjell mit de aijene Hände.« Niobe wurde ernsthaft verdächtigt, Männer und Knaben vom Leben zum Tode befördert zu haben. Man diskutierte hin und her, richtete in den Zeitungen eigens für den Fall Niobe eine Ecke für freie Meinungsäußerungen ein; von fatalen Begebenheiten wurde gesprochen. Von unzeitgemäßem Aberglauben sprach die Stadtverwaltung: Man denke nicht daran, etwas Überstürztes zu unternehmen, bevor nicht bewiesen sei, daß sich sogenanntes Unheimliches wirklich und wahrhaftig zutrage.

So blieb das grüne Holz weiterhin das Prunkstück des Schiffahrtsmuseums, da sich das Landesmuseum in Oliva, das städtische Museum in der Fleischergasse und die Verwaltung des Artushofes weigerten, die mannstolle Person aufzunehmen.  - Günter Grass, Die Blechtrommel. Frankfurt am Main 1965 (Fischer-Tb. 47314, zuerst 1959)

Galionsfigur (3)

Galionsfigur (4)  Schwarzbarts struppiger Schädel, unter Triumphgeschrei vom Rumpfe getrennt und an die Bugsprietspitze von Maynards tapferer Slup gesteckt, erschreckte Bath Town zum letzten Male und prangte danach auf einem Pfahle noch eine Weile an Virginias Strand, eine dunstende Trophäe des Rechts, allen Seeleuten zur Warnung.   - (bord)

Galionsfigur (5) Das Ankertau der „San Dominick" wurde gekappt. Das losschnellende Tauende fegte die Segeltuchverkleidung vom Galion weg und enthüllte, als der ausgebleichte Schiffsrumpf auf das offene Meer zu abdrehte, als Galionsfigur den Tod selbst in Gestalt eines menschlichen Skeletts, kalkweiß als Kommentar zu den mit Kalk darunter gepinselten Worten: „Folgt eurem Führer!"   - Herman Melville, Benito Cereno. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

Galionsfigur (6)  Es war ein großartiger Anblick. Selbst das bescheidenste Fahrzeug rührt durch sein zuverlässiges Dasein an des Seemanns Herz, und hier bot sich die Schiffsaristokratie den Blicken dar. Es war eine stattliche Versammlung der Schönsten und Schnellsten, von denen jedes das geschnitzte Sinnbild seines Namens am Bug führte. Wie in einer Galerie von Gipsfiguren sah man dort Frauengestalten mit zackigen Kronen; Frauen mit wallenden Gewändern, mit goldenen Stirnbändern im Haar oder blauen Schärpen um die Hüften, die wohlgerundeten Arme ausgestreckt, als wollten sie den Weg weisen; behelmte oder barhäuptige Männerköpfe; und in voller Größe, von Kopf bis Fuß ganz in Weiß, die Gestalten von Kriegern, Königen, Staatsmännern, von Lords und Prinzessinnen; hier und da eine dunkelfarbige, bunt herausgeputzte Figur eines turbantragenden Sultans oder Helden aus dem Orient; und sie alle neigten sich unter der Schräge mächtiger Bugspriete vor, als warteten sie in ihrer gebeugten Haltung ungeduldig darauf, eine weitere elftausend Seemeilen lange Reise zu beginnen. So sahen die herrlichen Galionsfiguren der herrlichsten Schiffe aus, die es je auf See gab. Aber warum der Versuch, in Worten einen Eindruck wiederzugeben, dessen Echtheit keinen Kritiker und keinen Richter finden kann, da solch eine Ausstellung der Schiffbaukunst und der Schnitzkunst von Galionsfiguren, wie sie damals das ganze Jahr über in der Freilichtgalerie des New South Dock zu sehen war, keines Menschen Auge jemals wieder erblicken wird - warum, wenn nicht aus Liebe zu dem Leben, das diese Bildnisse in ihrer schweifenden Unbewegtheit mit uns teilten? Alles was es in dieser bleichen Schar von Königinnen und Prinzessinnen, von Königen und Kriegern, von allegorischen Frauengestalten, Heroinen und Staatsmännern und heidnischen Göttern an bekrönten, behelmten oder barhäuptigen Gestalten gab, ist für immer von der See verschwunden, nachdem sie bis zuletzt über den stürzenden Schaum der Bugwelle ihre schönen, kräftigen Arme ausgestreckt, bis zuletzt ihre Speere, Schwerter, Schilde und Dreizacke in derselben unermüdlichen, vorwärtstrebenden Haltung vor sich her getragen hatten. Und nichts ist von ihnen geblieben als der Klang ihrer Namen, der vielleicht noch in der Erinnerung einiger Männer haftet.  - (con)

Galionsfigur (7)   Sie stieß das Fenster auf und wedelte den Schmetterling hinaus. Die Luft draußen war erfrischend wie ein Bad; sie atmete sie tief ein.

In diesem Augenblick kam Peter den Gartenweg vom Stall herauf. Beim Anblick Rosas im Fenster erstarrte er.

Seit er sich in der Nacht des Regens dazu entschlossen hatte, davonzulaufen und zur See zu gehen, hatten Schiffe sein Herz erfüllt: Schoner, Barkschiffe, Fregatten. Nun war Rosa, mit ihren strümpfigen Beinen und in ihrem blauen Kleid, dessen Saum von der Quersprosse des Fensters zurückgehalten wurde, der Galionsfigur eines großen, stolzen Schiffes so ähnlich, daß ihm einen Augenblick lang so war, als sehe er sich seiner Seele von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Leben und Tod, die Abenteuer des Seefahrers, das Schicksal selbst stand dort in Gestalt eines Mädchens erhöht vor ihm. Es dämmerte ihm, daß ihm vor langer Zeit, da er ein Kind gewesen, etwas Ähnliches geschehen war, und daß die Welt damals wunderbar gewesen war. Oft ist es der Heranwachsende, das Wesen, das gerade die Kindheit verlassen hat, das am tiefsten und schmerzlichsten den Verlust jener einfachen und geheimnisvollen Welt empfindet. Peter sagte nichts; er war sich nicht sicher, wie man eine Galionsfigur anredete.   - Tania Blixen, Wintergeschichten, Reinbek bei Hamburg 1989

Galionsfigur (8)
 

Bug Figur

 

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