Fünfziger-Jahre-Orgie   In einer kleinen intimen Bar wurde irgendetwas gefeiert. Es waren nur Leute in der Bar, die zu unserer geschlossenen Gesellschaft gehörten. Die letzten Älteren darunter, anscheinend Angehörige der Jungen, verabschiedeten sich auch einige Zeit nach Mitternacht. Vorübergehend herrschte etwas flaue Stimmung. Dazwischen wurde noch getanzt. Plötzlich sah ich unter den Tanzenden zwei Nackte und wunderte mich, fand es zuerst ziemlich befremdend in dieser Gesellschaft. Dann zogen sich noch andere aus und tanzten nackt. Ich fand das ganz interessant, aber es änderte nichts an meinem Entschluß, nun bald aufzubrechen. Denn ich war sehr müde, hatte die Nacht vorher schon zu wenig geschlafen und langweilte mich auch, da ich keine Partnerin in dieser Gesellschaft hatte und überhaupt mehr Herren als Damen da waren. Zum Teil kannte ich sie. Es waren Jünglinge und Mädchen dabei, mit denen ich in meiner Gymnasialzeit den Tanzkurs gemacht hatte, darunter auch das Mädchen, für das ich damals schwärmte, und ein protzig-arroganter Fabrikantensohn, der mir immer zuwider war und auch umgekehrt mich immer besonders verächtlich behandelte und schikanierte. Aber auch der aus einer anderen Stadt und Generation stammende, berühmte Schriftsteller X nahm an dieser Party teil. Doch war er, waren wir alle noch jünger als jetzt, wenn auch schon älter als im Tanzstundenalter.

Ich drückte mich also ziemlich verlegen in den engen Räumen der Bar herum und wußte nicht recht, wie ich mich verabschieden, den Aufforderungen, noch zu bleiben, entziehen soll. Da wurde plötzlich der Beschluß verkündet, daß bis soundsoviel Uhr sich alle noch Bekleideten ausgezogen haben müssen. Wer nicht mitmacht, muß vorher gehen. Einerseits verlockte mich die Aussicht, daß nun auch mein einst erfolglos umworbener Jugendschwarm und die anderen zurückhaltenderen Mädchen sich ausziehen mußten, andererseits befürchtete ich, nackt noch gehemmter zu sein und unangenehmer aufzufallen als angezogen, mich durch zu schnelle Erektion zu blamieren. Ich war einfach zu müde, nicht ausgelassen und beschwipst genug, um da unbefangen mitzutollen. Mehr als der Gedanke, ich könnte vielleicht doch etwas versäumen, erschwerte mir gerade jetzt das Gehen, daß mich die anderen nun als Spielverderber oder prüden Duckmäuser ansehen und auslachen könnten. Schließlich gab ich mir trotz allem einen Ruck und fing an, mich zu verabschieden.

Da sagte jemand: was, jetzt willst du weg, wo gerade der und der zu einer Gesellschaft »höherer Töchter« gegangen ist, um noch mehr Mädchen zu holen. Der hätte mit mir gerechnet und würde genau soviel Mädchen mitbringen, daß es aufgeht. Da begann ich endlich, mir etwas mehr die verlockenden Seiten der Sache auszumalen und wollte zumindest mal abwarten, was da noch für Mädchen kommen.

Zögernd guckte ich in den Umkleideraum. Dort begegnete mir der nackte Schriftsteller X. Er war auch etwas verlegen, und ich ging doch wieder angezogen in die Bar, wollte auch angezogen bleiben, bis die neuen Mädchen kommen. Eine von ihnen gesellte sich dann gleich mir zu. Sie sah nicht übel aus und war ziemlich unterhaltend, kess und ungeniert, so daß ich auch meine Hemmungen verlor. Wir standen bald halb entkleidet in der Garderobe und küßten uns, und ich suchte dann alle meine Taschen durch. Sie sagte, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt: »Hast du keine Präservative dabei? Schade! — Wir können ja noch nach einem Automaten suchen.« Wir gingen eng aneinander gedrückt durch die dunkle Straße. Die Stadt war mir fremd.      - Wolfgang Bächler, Traumprotokolle. München 1972

 

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