Fronttheater  Das Front-Theater wurde von Einheiten der Roten Armee überrannt. War es von Nutzen, daß die Mitglieder der Gefolgschaft sich verkleideten? Daß sie Rollen übernahmen? Schliephake, der Kommandeur, in der Rolle des Beleuchters, Verpflegungs-Unteroffizier Raffert als Kommandant? Die jugendlichen Sängerinnen als dicke, ältliche Erauen ausgestopft und getarnt? So hofften sie, unanfechtbar zu sein gegenüber einem Feind, der sie als kulturelle Beute übernahm. Unter Bewachung fuhren die Busse und Lastkraftwagen der Theater-Kolonne zu rückwärtigen Stäben der Roten Armee. Unterhaltungsabende mit viel Musik, unter Vermeidung deutscher Worte; Weiterfahrt zu Rüstungsfabriken im Ural, erneut Auftritte. Zuletzt stationiert in der Hauptstadt Kirgisiens.

Die Tarnungsmaßnahmen erwiesen sich als Falle, Unteroffizier Raffert war kein Kommandeur, sondern eine Händlernatur. Die Theatertruppe wandelte sich zu einer Art von Bordell der zuständigen Standortkommandanten (sexuelle Bewirtung als Fortsetzung der Unterhaltung mit anderen Mitteln). Dem »Beleuchter« Schliephake blieb übrig, Musikstücke einzustudieren: alberne Operettenweisen und Schlager. Das Notenlesen, Singen und die Arbeit an der Perfektion geschahen ernsthaft. Alltag war dies nicht, Sorglosigkeit breitete sich aus.

Bald aber zog es die umherziehende Gruppe mit Macht »nach Hause«. Wie kommt in der Hast der Tage, mitten in der Zerstreuung der Tingelabende, ein solches starkes Gefühl zustande? Wenn doch manche Provinzstadt des russischen Imperiums der Truppe attraktive Angebote machte? Gerne hätte mancher Ort sich durch Seßhaftmachen des Front-Theaters Glanz verschafft. Wie griechische Soldaten der Antike in Persien hätte die Menschengruppe eine Heimat nur zu wählen brauchen ? An einem See, an Waldrändern, in einem grünen Flußtal des Pamir, in privilegierten Gegenden der staatlichen Haushaltspläne?

Nein! Sie suchten und fanden den Weg über die Grenze. Sie durchquerten Anatolien, meisterten den Bosporus; als Paß oder Zahlungsmittel dienten für Türken und Kurden merkwürdige Spielabende mit Operettenmusik, nun auch mit Melodien von Jacques Offenbach. Vom Marmarameer über Italien ins ehemalige Reichsgebiet. Dort erwartete sie niemand.

In die angestammte Heimat, jetzt sowjetische Zone, mochten sie nicht vordringen; sie hätten ihren Status dort am wenigsten erklären können. Sie traten mit ihrem Repertoire in Bad Homburg und in Gaststätten der umliegenden Dörfer auf, fürchteten sich vor dem Winter. Noch immer fuhren einige ihrer so oft reparierten Fahrzeuge; zwei Mechaniker aus dem Kaukasus in ihrer Begleitung. Ihre Irrfahrt (»jeder Mensch trägt seine Erinnerung wie ein Gepäck mit sich«) isolierte sie, verhinderte ihre Zerstreuung in der sprachlich vertrauten Fremde, »wie angekommen von einem anderen Planeten«. Sie trugen, so sah das Schliephake, der sie geführt hatte, eine fremde Zeit mit sich wie einen strengen Geruch (die ihrer Gefangenschaft, die des Weges zurück zur Heimat). Ihr langer Weg, sagte ihnen Schliephake, sei ein Kunststück.  - (klu)

Front Theater

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