Friedhofsraben     Der Anatom, der Leichen benötigt, sieht sich gezwungen, mit dem Abschaum des Volkes in Verbindung zu treten und Totengräber zu bestechen. Nebenbei sei hier gesagt, daß die Totengräber niemals Brennholz für den Winter kaufen; sie halten sich warm mit den Stücken der Särge, die sie vom Friedhof stehlen und zerhacken. Auf die gleiche Weise ersparen sie sich die Ausgaben für Hemden. Die Studenten aber, die kein Geld für den Kauf von Leichen erübrigen können, klettern nachts über die Friedhofsmauern und reißen den erstbesten am Vortag bestatteten Toten aus der Erde. Nachdem sie das Grab geschändet, den Sarg aufgebrochen und den Körper seines Leichentuchs beraubt haben, klappen sie diesen in der Mitte zusammen, stecken ihn in eine Hucke und schleppen ihn zum Anatomen. Nachdem dann der Tote zerschnitten und zergliedert ist, weiß der Anatom nicht, wie er ihn wieder dorthin schaffen soll, woher er kam. Also läßt er die Stücke einzeln verschwinden und schmeißt sie, wie es gerade kommt, bald in den Fluß, bald in Abzugsgräben oder in Senkgruben.  Dort vermischt sich menschliches Gebein mit den Knochen der Tiere, die man verzehrt hat, und gar nicht selten kommt es vor, daß man in einem Misthaufen auf die sterblichen Reste von seinesgleichen stößt. Wer immer das Skalpell führt, zieht die Hauptstadt allen ändern Örtlichkeiten vor, weil das zum Studium der Anatomie Erforderliche hier überaus leicht zu beschaffen ist. Leichen gibt es in Hülle und Fülle, und billig sind sie auch. Besonders wohlfeil werden sie im Winter; der Chefanatom bezahlt dann für einen Körper zehn bis zwölf Francs und verkauft ihn für einen Louis oder zehn Taler an seine Schüler weiter.    - Louis Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris. Frankfurt am Main 1979 (zuerst ca. 1780)
 

Friedhof Rabe

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