Friedhofshunde  Ich bemerkte, daß ich nicht mehr allein war.

Ein Tier war gekommen. Ein Hund. Er streckte den Hals nach den menschlichen Überresten, die auf dem Boden herumlagen, und schnupperte zwei- oder dreimal. Dann gesellte er sich zu mir und blieb unbeweglich neben mir stehen.

Ich hatte Zeit, ihn mit Muße zu betrachten und auch zu bewundern. Ziemlich hochbeinig, mit graubraunem Fell und spitzen, aufrecht stehenden Ohren, die Augen leicht schief, ein elegantes Tier; es hatte aber irgend etwas Verdächtiges an sich, das unklar an > Schon Gesehenes< erinnerte. Wahrscheinlich war es eine Kreuzung zweier Rassen, die ich nicht bestimmen konnte. Auf alle Fälle einer jener vielen Hunde, von denen sich die Bewohner Konstantinopels zu befreien gesucht haben, aber immer umsonst.

Ich setzte mich in Bewegung. Er folgte mir in fünf bis sechs Schritten Entfernung. Ich stand still. Er stand still. Ich ging wieder. Er folgte mir wieder. Ein- oder zweimal erkühnte er sich, an meinen Kleidern zu schnuppern. Aber dann hielt er wieder respektvoll Distanz.

Die Hunde haben es gern, wenn man mit ihnen spricht. Ich redete also mit meinem neuen Begleiter. Ich fragte nach seinem Namen und woher er komme und ob er Französisch verstehe. Ich forderte ihn auf, sich nicht zu kratzen. Er hörte auf meine Reden, trank sie mit den Augen und folgte mir weiter.

Plötzlich, bei der Wendung einer Allee, zeigte sich ein zweiter Hund. Man hätte glauben können, er habe mich erspäht. Er glich dem ersten genau in Form und Farbe, war aber größer und schmutziger; er schloß sich ebenfalls an. Beide trabten artig hinter mir her. Ich versuchte auch den Neuangekommenen zutraulich zu machen.

»So ein großer Hund, der das Wasser und die Seife nicht kennt. Du wärest nicht häßlich, wenn du ein Halsband hättest. Soll ich dir ein schönes kaufen, ein grünes mit goldenen Knöpfen?«

Dem Hund schien die Beschreibung des Halsbandes zu gefallen. Er drückte sich an mich und beschnupperte mich mit einer Kühnheit, die mir ungehörig schien. Ich gab ihm einen Nasenstüber. Mit einem Sprung wich er zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Keine Vertraulichkeiten«, sagte ich zu ihm. »Wenn du gut mit mir stehen willst, so nimm zuerst ein Bad.«

War es meine Rede? Oder der Nasenstüber? Das Tier ließ mich in Ruhe, und ich setzte meinen Weg fort.

Ein Rauschen ging durch die Büsche. Zwei Hunde erschienen, gleich wie die ersten, dann zwei weitere, dann noch mehr. Sie brachen aus dem Gehölz oder aus den Wegen hervor, beschnupperten und genehmigten mich. Gleich darauf machte ich halt.

Es waren elf. Alle einander ähnlich. Elend, schmutzig, traurig und so seltsam beharrlich treu. Sie folgten mir mit geschmeidigem, weichem Schritt; sie glitten so leicht dahin wie Schatten, so gleichmäßig, daß die ganze Meute wie ein einziges Wesen wirkte.

Von Zeit zu Zeit hielt ich an, um mit ihnen zu sprechen. Sie hielten auch an, der ganze Haufe. Unbeweglich hörten sie mir zu, und ihre schiefen Augen hafteten auf mir. Da fiel mir etwas Merkwürdiges auf, das mir bis jetzt entgangen war imd das mich erstaunte. Seit ich mit diesen Tieren zusammen war, hatte noch keines mit dem Schweif gewedelt. Sie waren seltsam, die Hunde von Konstantinopel.

Ich setzte den Spaziergang fort, indem ich meine Schritte beeilte; denn es begann zu dämmern, und das Schiff fuhr am Abend ab. Von Zeit zu Zeit drehte ich den Kopf, um den elf Tieren, die mir geräuschlos folgten, ein Wort zuzurufen. Jedesmal begegnete ich ihrem Blick, der immer glühender wurde in der zunehmenden Dunkelheit. Und da, als ich mich ein letztes Mal umdrehte, stieß ich gegen eine Wurzel und wäre beinahe der ganzen Länge nach hingefallen. Ein Ast, den ich ergreifen konnte, und eine energische Bewegung halfen mir wieder ins Gleichgewicht. Das dauerte vielleicht fünf Sekunden. Aber ich hatte hinter mir ein plötzliches Aufspringen gehört, und als ich überrascht gegen die Hunde kehrtmachte, war die ganze Horde auf meinen Fersen mit halboffenen Mäulern. Sie wichen sogleich zurück, alle miteinander. - Maurice Sandoz, Der Friedhof von Skutari. In: M. S., Am Rande. Zürich 1967

 

Friedhof Hund

 

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