riedenau
Von Friedenau wird behauptet, daß es, wie auch gewisse Teile von Steglitz
und Lichterfelde, Zufluchtsstätte vieler ehemaliger königlicher Beamter und
rentenlos gewordener Rentner alten Schlages sei. Gestalten mit chronisch entrüstetem
Gesichtsausdruck über Bärten, die etwas Pensioniertes, etwas von Restbestand
haben, sollen Geheimräte und Kanzleisekretäre sein; es begleiten sie Gattinnen,
die oft richtige Federn auf dem Hut haben, wie in entschwundenen Zeiten die
Damen von Welt es hatten. Diese würdigen Matronen wohnen in freundlichen, etwas
unmodernen Gartenhäusern. Man sollte glauben, daß sie in ihrem traulichen Heim
lieblicher werden müßten, als sie es sind. - (
hes
)
Friedenau (2)
Sich Abfinden sei etwas für Optimisten |
- Hans Magnus Enzensberger, Die Furie des Verschwindens.
Frankfurt am Main 1980 (es 1066)
Friedenau (3) Mit Baader konnte ich zu manchen Zeiten herrlich zusammenarbeiten.
Heute ist der hundertste Geburtstag von Gottfried Keller, sagte mir Baader plötzlich eines flammenden Sommerabends 1918.
Wir befanden uns in der Mitte der Rheinstraße in Friedenau, ein prangender Himmel, leichte Dämmerung in der breiten, von nicht sehr hohen Häusern eingefaßten Straße, zwischen zwei Rasenstreifen, unter grünenden Bäumen glitt die Tram. Ich war sofort entschlossen:
Hast du etwas von Keller bei dir?
Gewiß, den "Grünen Heinrich".
Schön, das feiern wir gleich.
Ohne ein Wort zu verlieren, begaben wir uns in die Mitte der Straße, auf den Damm, unter eine starke elektrische Lampe, hoch, zu hoch oben in der Luft. Schulter an Schulter zogen wir den Schmöker hervor und begannen zu lesen: Poesie, fix und fertig, nach Maß. Das heißt, wir rezitierten abwechselnd, willkürlich in dem Buch blätternd, hier und dort Bruchstücke von Sätzen, ohne Anfang, ohne Ende, änderten die Stimme, den Rhythmus, den Sinn, blätterten von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, spontan, ohne zu zögern, ohne uns zu unterbrechen. Das gab einen neuen Sinn und wunderbare Verbindungen. Bemerkten wir nicht die Vorübergehenden? Jedenfalls bemerkten wir kein Zeichen vom Aufmerken des Publikums - eifrig blieben wir bei der Sache während einer guten Viertelstunde. Die Worte des Buches erschienen uns geheimnisvoll, erleuchtet von unserer gehobenen Sprache, beschwingt von unserem entzückten Geist, gequält durch neue Verbindungen, einen Sinn jenseits von Sinn und Verständnis.
Aber mit einem Schlage hatten wir genug, fertig, zugemacht den Schmöker,
wir setzten uns in Marsch. Im Vorgarten eines kleinen Ausschanks irgendwo in
der Nähe (ich glaube, es war an der Ecke Kaiserallee), bei einem Grätzerbier
ergötzten wir uns noch während einer Stunde, sprachen in einem von uns erfundenen
psychoanalytischen Kauderwelsch, fast ohne ein normales, regelrechtes Wort,
in einem Zustand von Entzündung des Unbewußten, das aus allen Ecken seine Geheimnisse
ausströmte. Es war ein sehr schönes Fest, sehr würdig. - Raoul
Hausmann, nach: Dada Berlin.
Stuttgart 1977. Hg. Hanne Bergius, Karl Riha
Friedenau (4)
|
||
|
||