Fremdenführer  «Man nennt ihn ‹Doktor›, weil er die höhere Schule durchlaufen hat, so wie man jeden ungebildeten Pflanzer, der an Kaffee reich geworden ist, ‹Coronel› tituliert. ‹Coronels› sind übrigens auch die gedienten Soldaten und im Dialekt sogar die Zuhälter, die caftens, die in Rio fast sämtlich desertierte Matrosen sind. Das kommt vom Klima. Schauen Sie sich nur die Natur ringsum an, den ganzen Überschwang. Machen Sie die Augen auf, lassen Sie sich nicht bluffen! Bei uns wird alles übertrieben. Ich wünsche Ihnen nicht, daß Sie sich in eine Brasilianerin verlieben, Blaise. Was für ein Theater! Sie machen sich keinen Begriff davon...»

Dieses Lästermaul! Er führte mich hier ein, und ich mochte ihn gut leiden. In Paris hätte ich so einen boshaften, eigensinnigen, zynischen, eifersüchtigen Kerl, so einen Intriganten und Schmeichler bald unausstehlich gefunden, aber in São Paulo, wo es keine annehmbare Unterhaltung gibt und der Kreis der möglichen Beziehungen außerhalb des Automobil-Klubs sehr beschränkt ist, amüsierte mich der schwatzhafte Bankierssohn, der sich als wohlinformierter Kosmopolit aufspielte, mit seinem Insider-Wissen und seinen Indiskretionen. Die oft sehr gewagten Anekdoten, die trotz der Beiläufigkeit und Wurstigkeit, mit der er sie hinzuwerfen pflegte, immer höchst effektvoll präpariert waren, haben mich mehr über die Geschichte des Landes und die Sitten jener Gesellschaft gelehrt, als noch so viele dicke Schmöker aus der Feder der trefflichsten Historiker und Nationalökonomen es hätten tun können. Seine Beweise waren unanfechtbar, seine Respektlosigkeit schreckte vor nichts zurück, und seine skandalösen Andeutungen waren niemals nur so hingesagt, denn Caïo de Azevedo war ebenso schlau wie perfid; er legte mir nur etwas nahe, er setzte mich auf die richtige Fährte, er wies mir den verbotenen Zugang mit dem schadenfrohen Hintergedanken, der heimlichen Hoffnung, ich würde mich verwirren, Ungeschicklichkeiten begehen, mich zu weit vorwagen, mich blamieren, verraten, verrennen, verlieren.

Dieser Typus ist in Brasilien, wo es von Schlangen wimmelt, nicht selten. Das ist das indianische Blut, das sich so schädlich auswirkt wie Kokain. Dabei schätzte ich mich glücklich, mit Caïo zu verkehren. Ich konnte ihn nicht mehr missen, so nützlich war mir dieser unberechenbare, scheinheilige Kerl in einem Land, wo wirklich alles überschwenglich wucherte, die Gefühle ebenso wie die feindselige Natur. Hier ist die Freundschaft unrein und bedrohlich, wie die Orchideen, die wunderschönen Schmarotzerblumen, die Unglück bringen und giftig sind.   - Blaise Cendrars, Sternbild Eiffelturm. Zürich 1982 (zuerst 1949)

 

Reise Fremde

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Tourist
Synonyme