reiheitsgrade  Er sagte (und glaubte in gewisser Weise tatsächlich daran), dass die Intensivierung der Informationsflüsse in der Gesellschaft an sich eine gute Sache sei. Dass die Freiheit nichts anderes sei als die Möglichkeit, Verbindungen verschiedenster Art zwischen Individuen, Projekten, Institutionen und Dienstleistungen herzustellen. Das Maximum an Freiheit fiel seiner Meinung nach mit dem Maximum an Wahlmöglichkeiten zusammen. Mit einer der Festkörperphysik entlehnten Metapher nannte er diese Wahlmöglichkeiten «Freiheitsgrade«.

Wir saßen, ich erinnere mich, in der Nähe des Großrechners. Die Klimaanlage summte vor sich hin. Er verglich die Gesellschaft gewissermaßen mit einem Gehirn, die Individuen mit Gehirnzellen, für die es tatsächlich wünschenswert ist, so viele Verbindungen wie möglich herzustellen. Darin erschöpfte sich aber die Analogie. Denn er war ein Liberaler und als solcher kein Parteigänger dessen, was für das Gehirn unabdingbar ist: ein Vereinheitlichungsplan.

Sein eigenes Leben war, wie ich später erfuhr, äußerst funktionell. Er bewohnte eine Einzimmerwohnung im 15. Arrondissement. Die Heizung war in den Betriebskosten enthalten. Er hielt sich fast nur zum Schlafen dort auf, denn er arbeitete viel — und las außerhalb der Arbeitsstunden meist eine Zeitschrift namens Micro-Systèmes. Die berühmten Freiheitsgrade beschränkten sich, was ihn betraf, auf die Wahl seines Abendessens per Minitel (er hatte ein Abonnement auf eine damals noch neue Dienstleistung, die Zustellung warmer Speisen zu einem genauen Zeitpunkt mit relativ kurzer Lieferzeit).

Abends sah ich gern zu, wie er sein Menü zusammenstellte und dabei das Minitel bediente, das sich in der linken Ecke seines Schreibtischs befand. Ich hänselte ihn wegen der Erothek; aber in Wirklichkeit bin ich überzeugt, dass er noch Jungfrau war.

In gewisser Weise war er ein glücklicher Mensch. Er fühlte sich, nicht zu Unrecht, als Akteur der telematischen Revolution. Er empfand tatsächlich jede Erweiterung der Macht der Informatik, jeden Schritt hin auf die Globalisierung des Netzes als persönlichen Sieg. Er wählte die Sozialisten. Und seltsamerweise bewunderte er Gauguin. - Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone (1999, zuerst 1994)

Wahl
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