reigeist
Im 13. Jahrhundert entstand eine Sekte unter dem Namen
der Brüder und Schwestern des Freien Geistes, welche glaubten,
durch lange, eifrige Betrachtung könne
jeder Mensch auf unaussprechliehe Weise
mit der Gottheit verbunden und eins werden
mit der Quelle und dem Urheber aller Dinge. Wer sich so zu Gott
erhoben habe und in seinem beseligenden Wesen ganz aufgegangen
sei, bilde tatsächlich einen Teil der Gottheit, sei der Sohn
Gottes in demselben Sinne und derselben Weise wie Christus selbst
und genieße daher eine herrliche Freiheit und Unberührtheit von
den Fallstricken menschlicher und göttlicher Gesetze. Innerlich
durch diese selige Überzeugung entzückt, wenn sie auch äußerlich
in Anblick und Manieren unerhörten Irrsinn und Verwirrung an
den Tag legten, streiften die Sektierer in den phantastischsten
Gewändern von Ort zu Ort und bettelten um Brot unter lautem Rufen
und Lärmen. Dabei verhöhnten sie empört ehrliche Arbeit und Fleiß
aller Art als Hindernis auf dem Wege der göttlichen Betrachtung
und dem Aufstieg der Seele zu dem Vater der Geister. Auf allen
ihren Fahrten waren sie von Frauen begleitet, mit denen sie auf
vertrautestem Fuße lebten. Diejenigen von ihnen, welche meinten,
die größte Vollkommenheit in dem höheren geistigen Leben erreicht
zu haben, trugen in ihren Versammlungen keinerlei Kleider, da
sie Schicklichkeit und Bescheidenheit als Zeichen innerer Fäulnis
und als Merkmale einer Seele ansahen, die noch unter der Herrschaft
des Fleisches verkam und sich noch nicht zur Gemeinschaft mit
dem göttlichen Geist, ihrem Mittelpunkt und ihrer Quelle erhoben
hatte. Zuweilen wurde ihr Weg zu dieser mystischen Vereinigung
beschleunigt durch die Inquisition, und sie kamen in den Flammen
um, nicht nur in ungetrübter Gelassenheit,
sondern geradezu unter den stolzesten
Gefühlen von Heiterkeit und Freude.
- (
fraz
)
Freigeist
(2) Wissen Sie, daß Madame d'Aine ein Freigeist geworden
ist? Vor ein paar Tagen erklärte sie uns, sie glaube, ihre Seele
müsse in der Erde ebenso verwesen wie ihr Körper. »Aber
warum beten Sie dann zu Gott?« — »Meiner Treu, ich weiß auch nicht.« — »Sie
glauben also nicht an die Messe?« — »Einen Tag glaube ich daran, den anderen
nicht.« — »Aber, an dem Tag, an dem Sie glauben?« — »An diesem Tag habe ich
schlechte Laune.« — »Und gehen Sie zur Beichte?« — »Was soll ich da?« — »Ihre
Sünden bekennen.« — »Ich begehe keine; und wenn ich welche beginge, könnte ich
sie damit ungeschehen machen, daß ich sie einem Priester beichte?« — »Fürchten
Sie denn nicht die Hölle?« — »Nicht mehr, als ich auf das Paradies hoffe.« —
»Aber woher haben Sie denn all das?« — »Aus den schönen Unterhaltungen meines
Schwiegersohnes. Meiner Treu, man müßte schon einen erheblichen Vorrat an Religion
haben, um bei ihm ein Krümchen zu behalten. Hören Sie, mein Schwiegersohn, Sie
waren es, der meinen ganzen Katechismus durcheinandergebracht
hat; Sie werden sich dafür vor Gott verantworten müssen.« — »Sie glauben also
doch an Gott?« — »An Gott? Ich habe so lange nicht an ihn gedacht, daß ich nicht
weiß, ob ich Ihnen mit Ja oder Nein antworten soll. Alles, was ich weiß, ist,
daß ich, wenn ich verdammt bin, es nicht allein sein werde; doch wenn ich zur
Beichte ginge, wenn ich mir die Messe
anhörte, wäre ich es nicht mehr und nicht weniger; es lohnt die Mühe nicht,
sich für nichts so abzuquälen. Wäre mir das passiert, als ich jung war, hätte
ich vielleicht viele angenehme Sächelchen gemacht.« - (
sop
)
Freigeist
(3) Ein Freigeist, entschlossen zu dieser Tat, kann
mit Leichtigkeit in einem Jahre dreißig Kinder verderben.
In dreißig Jahren hat er neuntausend verdorben. Und wenn jedes Kind nur ein
Viertel dessen vollbringt, was er getan, wird der Wüstling das Glück haben,
nachdem er zwei Generationen heranwachsen gesehen hat, neun Millionen Verbrecher
durch ihre oder durch seine Prinzipien zu sehen. „Gottvoll," sagte Clairwil,
„aber man muß es auch durchführen. Man muß nicht nur dreihundert jährlich verderben,
sondern auch bei der Verderbnis mithelfen. Donnerwetter! Wenn sich zehn Personen
zu diesem Pakt vereinigen würden, die Verderbnis würde unter ihren Augen schnellere
Fortschritte machen als die Pest." „Gewiß," sagte ich, „aber hierzu
muß man alle Mittel auf einmal, der Sicherheit wegen, verwenden: Rat, Tat und
Wort." „Wie gefährlich das alles ist," sagte Clairwil. „Gewiß,"
sagte ich, „aber erinnere dich daran, daß Macchiavelli sagt: ,Es ist
besser, mitten hinein, als um eine Sache herumzugehen.'" -
(just)
Freigeist (4)
Die zehn Gebote des Freigeistes
Du sollst Völker weder lieben noch hassen.
Du
sollst keine Politik treiben.
Du sollst nicht reich und auch kein Bettler
sein.
Du sollst den Berühmten und Einflußreichen aus dem Wege gehen.
Du
sollst dein Weib aus einem anderen Volke als dem eigenen nehmen.
Du sollst
deine Kinder durch deine Freunde erziehen lassen.
Du sollst dich keiner Zeremonie
der Kirche unterwerfen.
Du sollst ein Vergehen nicht bereuen, sondern seinetwegen
eine Guttat mehr tun!
Du sollst, um die Wahrheit sagen zu können, das Exil
vorziehen.
Du sollst die Welt gegen dich und dich gegen die Welt gewähren
lassen.
- Friedrich Nietzsche, "Die Unschuld des Werdens"