Frauenstudium   »Wie geht es Ihren Kindern? Ich glaube, Miß Lydgate hat mir erzählt, daß Sie zwei kleine Mädchen haben?«

»Ja, gnädige Frau. Sie sind sehr freundlich, nach ihnen zu fragen.« Annies Gesicht strahlte vor Freude. »Es geht ihnen ausgezeichnet. Das hiesige Klima tut ihnen gut nach der Fabrikstadt, in der wir früher lebten. Mögen Sie Kinder gern, gnädige Frau?«

»O ja«, sagte Harriet. Im Grunde machte sie sich nicht viel aus Kindern, aber das kann man denen, die damit gesegnet sind, schlecht sagen.

»Sie sollten heiraten und selbst welche haben, gnädige Frau.«

»Nun, Annie, das ist Geschmackssache. Und man muß warten, bis der Richtige kommt.«

»Das stimmt, gnädige Frau.« Harnet erinnerte sich plötzlich, daß Annies Mann verrückt gewesen war und Selbstmord oder irgend etwas anderes begangen hatte; sie fragte sich, ob sie am Ende wenig zartfühlend sei. Aber Annie schien ganz befriedigt; sie lächelte wieder. Sie hatte große hellblaue Augen und mußte einmal eine hübsche Frau gewesen sein, bevor sie so mager und vergrämt aussah. »Ich hoffe bestimmt, er kommt für Sie, gnädige Frau. Aber vielleicht sind Sie schon verlobt?«

Harriet runzelte die Stirn. Sie lehnte diese Frage ab und fühlte keine Veranlassung, ihre Privatangelegenheiten mit dem Personal des College zu besprechen. Aber Keckheit schien nicht hinter der Frage zu stecken, also antwortete sie freundlich: »Nein, das bin ich nicht. Aber man kann nie wissen. Wie gefällt Ihnen die Neue Bibliothek?«

»Es ist ein sehr schöner Saal, finden Sie nicht auch, gnädige Frau? Nur 'scheint es mir jammerschade, daß ein so großer Raum bloß dazu da sein soll, damit Frauen darin studieren können. Ich kann nicht einsehen, was Mädchen an Büchern finden. Aus Büchern können sie nie lernen, gute Hausfrauen zu werden.«

»Was für schreckliche Ansichten, Annie«, sagte Harriet. »Was hat Sie dazu bewogen, eine Stelle in einem Frauencollege anzunehmen?«

Das Gesicht des Hausmädchens umwölkte sich. »Ich habe viel durchgemacht, gnädige Frau. Ich mußte annehmen, was ich finden konnte.«

»Selbstverständlich. Ich habe auch nur im Scherz gesprochen. Haben Sie Freude an der Arbeit?«

»O ja. Nur sind manche von diesen gelehrten Damen ein bißchen komisch, finden Sie nicht auch, gnädige Frau? Sonderbar, meine ich. Sie haben kein Herz.«

»Nein«, antwortete Harriet. »Sie haben natürlich viel zu tun, und es bleibt ihnen wenig Zeit für andere Interessen. Aber sie sind alle sehr gutherzig.«

»Ja, gnädige Frau; ich bin überzeugt, daß sie die beste Absicht haben. Aber ich muß immer an das, was in der Bibel steht, denken. ›Die große Kunst macht dich rasend.‹ Es ist nicht das Richtige.«

Harriet sah schnell auf und begegnete einem seltsamen Blick.   - Dorothy Sayers, Aufruhr in Oxford. Bergisch Gladbach 1979 (zuerst ca. 1935)

Frau, intellektuelle Studium

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Gender Studies

 

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