rauenstimme  Bei all seiner Exzentrik war Johannes viel zu wohlanständig im bürgerlichen Sinne, politisch streng konservativ und kaum geneigt, einen Jungen aus einer sehr guten Familie zu verführen, noch dazu einen unschuldigen Jungen aus der Nachbarschaft, der ihm vollkommen vertraute. Bei mir jedenfalls unternahm er nicht den geringsten Versuch zu einer Intimität, abgesehen davon, daß er mir hin und wieder seine Hand aufs Knie legte, eine für ihn so natürliche Geste, daß ich sie bedenkenlos akzeptierte. Wenn ich ihm meine unglücklichen Liebesgeschichten gestand, pflegte er zu sagen, ich solle mich nicht davon bekümmern lassen, Frauen hätten die Aufmerksamkeit eines ehrlichen Jungen ohnehin nicht verdient. »Hör dir nur ihre Stimmen an, Julius, und vergleiche sie mit der eines Jungen. Frauenstimmen sind unrein.« Seine eigene Stimme, die außerordentlich gut ausgebildet und moduliert war, konnte so unrein klingen wie keine andere, wenn er einer Art zu sprechen freien Lauf ließ, welche die Homosexuellen »tölen« nannten, eine Art homosexuelles Miauen, das er jedoch hauptsächlich einsetzte, wenn er Homosexuellenwitze erzählte, was er mit Begeisterung tat; wie den von den beiden Schauspielern, die sich in der Garderobe so heftig streiten, daß der eine dem anderen eine rosa Puderquaste an den Kopf wirft, woraufhin der Getroffene in genau diesem Tonfall ausruft: »Schwester! Mäßige dich!«  - Julius Posener, Heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904 bis 19133. München 2004

Frauenstimme (2)  Die Begegnung stand unmittelbar bevor; verbergen konnte ich mich nirgends. Plötzlich verstummten die Schritte, hielten ganz nahe vor der Tür inne, und ich hörte außer dem Geraschel der Mäuse, die in den Papierhaufen herumliefen, so lange nichts, daß ich nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. Ich bildete mir ein, jemand schleiche insgeheim, geduckt, über die Türschwelle, um mich zu packen. Das Entsetzen über einen wahnsinnigen Schrei, der die Dunkelheit zerriß, ließ mich wie ein Windstoß mit ausgestreckten Armen nach vorne stürzen. Ich sprang zur Seite, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Ein Licht blitzte auf, das den ganzen dem Blick zugänglichen Raum von Tür zu Tür übergoß. Es war hell wie am Tag. Ich wurde von einer Art Nervenschock erfaßt, aber nur eine Weile lang, dann ging ich gleich wieder weiter. Da ertönte hinter der nächstliegenden Wand eine Frauenstimme: »Kommen Sie her!« Darauf erfolgte ein leises, herausforderndes Lachen.

Bei all meiner Verblüffung - ein solches Ende meiner Qual, die ich fast eine Stunde lang ertragen mußte, hatte ich nicht erwartet. »Wer ist da?« flüsterte ich, und näherte mich vorsichtig der Tür, hinter der mit einer so schönen und sanften Stimme eine Unbekannte ihre Anwesenheit verraten hatte. Bei diesem Klang stellte ich mir ihr Äußeres vor, das wohl so anmutig war wie die Stimme, und vertrauensvoll schritt ich weiter, auf eine abermalige Aufforderung wartend: »Kommen Sie doch her, kommen Sie!« Aber hinter der Wand sah ich niemand. Die matten Glaskugeln und Lüster glänzten unter den Decken und streuten Tageslicht zwischen die schwarzen Fenster der Nacht. So fragte ich und erhielt jedesmal dieselbe Antwort von jenseits der Wand des nächsten Raumes: »Kommen Sie, ach kommen Sie schnell!« Ich durchmaß fünf oder sechs Zimmer, erblickte mich in einem von ihnen im Spiegel, die Augen aufmerksam von einer Leere auf die andere gerichtet. Es schien mir, daß die Schatten in den Tiefen des Spiegels voll waren von gebückten, hintereinander dahinschleichen-den Frauen in Mantillen und ans Gesicht gedrückten Schleiern, die ihre Züge verbargen, und nur ihre schwarzen lächelnden Augen unter den neckisch zusammengezogenen Brauen leuchteten und zwinkerten kaum merklich. Das war jedoch nur eine Illusion, denn ich drehte mich so schnell um, daß auch das flinkste Geschöpf in diesem Haus nicht fliehen hätte können. Müde und in meiner Aufregung etwas wirklich Schreckliches in dieser stummen, grell erleuchtenden Leere fürchtend, rief ich schließlich ungestüm:

»Zeigen Sie sich endlich, oder ich gehe keinen Schritt weiter. Wer sind Sie und weshalb rufen Sie mich?«

Ich erhielt keine Antwort, das Echo dämpfte meine Worte mit einem undeutlichen dumpfen Dröhnen. Angst und Sorge waren aus den Worten der geheimnisvollen Frau herauszuhören, als sie mir aus einer Ecke, die ich nicht ausmachen konnte, zurief: »Beeilen Sie sich, zögern Sie nicht. Kommen Sie doch, sträuben Sie sich nicht!« Es schien, als seien diese Worte dicht neben mir gesprochen worden, rasch wie ein Plätschern und melodisch, ganz nah bei meinem Ohr. Aber vergeblich eilte ich voll hastiger Ungeduld von einer Tür zur anderen, riß sie auf oder schlängelte mich durch die verwinkelten Korridore, um irgendwo mit den Augen die enteilende Frau zu erhäschen - überall stieß ich nur auf Leere, Türen und Licht. So ging das weiter, wie ein Versteckspiel, und einige Male seufzte ich schon erbittert, unschlüssig, ob ich weitergehen oder stehenbleiben, entschieden stehenbleiben sollte, solange ich nicht sehe, mit wem ich von weitem so erfolglos spreche. Wenn ich schwieg, suchte die Stimme mich; immer inniger und beunruhigender klang sie, wies mir sofort die Richtung und rief leise hinter der nächsten Wand:

»Hierher, kommen Sie schnell hierher!«

So sehr ich auch im allgemeinen ein Gefühl für die Nuancen von Stimmen habe - und erst recht unter diesen Umständen höchster Anspannung -, so konnte ich aus diesen Rufen, aus den beharrlichen Aufforderungen der lautlos enteilenden Frau keinerlei Hohn oder Verstellung heraushören, obwohl sie sich mehr als ungewöhnlich verhielt. Einstweilen hatte ich keinen Grund, etwas

Böses oder Unheilverkündendes zu verdächtigen, kannte ich doch nicht die Beweggründe ihres Verhaltens. Eher konnte man vermuten, daß sie mir unbedingt in aller Eile etwas mitteilen oder zeigen wollte, und daß die Zeit für sie ungemein teuer war. Wenn ich mich irrte und nicht in das richtige Zimmer gelangte, aus dem zusammen mit dem Rascheln und dem schnellen Atem wieder die melodische Stimme zu hören war, wurde mein Irrtum berichtigt und der Weg mit einem einschmeichelnden und sanften »Hierher!« gewiesen. Ich war schon zu weit gegangen, um zurückzukehren. Gebannt vom beunruhigenden Reiz dieser Unbekannten, eilte ich im Laufschritt über die ausgedehnten Parkettböden, die Augen immer dorthin gerichtet, woher die Stimme kam.

»Ich bin hier«, sagte schließlich die Stimme im Ton der Endgültigkeit. Das war an einer Kreuzung eines Korridors mit einer Treppe, deren wenige Stufen in den nächsten, höher gelegenen Korridor führten. »Gut, aber das ist das letzte Mal«, warnte ich.

Sie erwartete mich am Beginn des Korridors, rechts, wo das Licht weniger stark leuchtete; ich hörte ihr Atmen, als ich die Treppe hinaufstieg und mich wütend im Halbdunkel umblickte. Natürlich hatte sie mich wieder betrogen. An beiden Wänden des Korridors türmten sich Bücherstapel und ließen nur einen schmalen Durchgang frei. Bei einer Lampe, die nur schwach die Treppe und den Anfang des Weges beleuchtete, konnte es passieren, daß ich sie nicht bemerkte.

»Wo sind Sie denn?« sagte ich, bemüht, mit meinem Blick das Dunkel zu durchdringen. »Bleiben Sie stehen, warum eilen Sie so? Kommen Sie hierher!«

»Ich kann nicht«, antwortete die Stimme leise. »Aber sehen Sie mich denn wirklich nicht? Ich bin hier. Ich bin müde und habe mich hingesetzt. Treten Sie doch näher!«

Und wirklich hörte ich ihre Stimme ganz nahe. Ich mußte nur um die Ecke biegen. Dahinter herrschte Dunkelheit, durch den hellen Fleck einer Tür begrenzt. Ich stolperte über Bücher, glitt aus, geriet ins Wanken und im Fallen stieß ich einen schwankenden Stapel Bücher um. Er stürzte in die Tiefe. Ich fiel auf die Hände, fühlte unter ihnen eine senkrechte Leere, und wäre beinahe selber in den Abgrund gestürzt, von wo auf meinen unwillkürlichen Schrei das Getöse einer Bücherlawine antwortete. Ich konnte mich nur deshalb retten, weil ich zufällig vorher hingefallen war.    - Alexander Grin, Der Rattenfänger. In: Phantastische Welten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984 (Phantastische Bibliothek 137)

Frauenstimme (3) Plötzlich erloschen alle Lichter, und er stand im Dunkeln. Sein erster Impuls war, wegzurennen, so schnell er konnte, und später sollte er sich von ganzem Herzen wünschen, er hätte es getan. Aber er blieb stehen, weil er eine Frauenstimme hörte. »Hilfe! Hilfe!«

Er rief: »Kommen Sie heraus, kommen Sie heraus, wo immer Sie auch sind!« Keine Antwort außer von dem unsichtbaren Feuer. Mr. Wooly hatte keine Lust, die Treppe hinaufzusteigen und zu verbrennen. Er rief wieder und ging bis zur halben Höhe. »Irgendeine Unterschicht-Hysterikerin«, knurrte er ärgerlich. Eine Tür flog auf und Feuer sprang hervor, wogte, kroch hastig um die Flamme herum, fraß, fauchte, verlor sich wieder im eigenen Rauch. Mitten aus diesem schrecklichen Anblick trat eine Frau. Kaum daß er nähertrat, fiel sie in Mr. Woolys Arme. Er grunzte. Einen Augenblick standen sie da wie die beiden Teile einer Trittleiter. Er sah ein, daß es unter den gegebenen Umständen nur eines gab, das er mit ihr anfangen konnte, so ungern er sich auch an fremden Frauen festhielt. Er hievte sie sich über die Schulter. Dort legte er sie zurecht, und so zerstreut er auch war, fiel ihm doch auf, daß ihre Haut unter seinen Fingern kühl war. Haut? Er tastete erneut nach ihr, hierhin und dorthin, wo er sie gerade erwischen konnte. Endlich fand er Worte, und aus irgendeinem Grund flüsterte er. »Wo«, fragte er, »sind Ihre Kleider?« »Ich weiß nicht«, antwortete sie. Die Stimme kam von hinten, ein ganze Stück unterhalb seines Halses. Sie lag ihm wie ein Sack über der Schulter, die Füße nach vorn.

Ihre Auskunft erschien unzureichend. Er beharrte. »Was soll das heißen, Sie wissen nicht, wo Ihre Sachen sind?«

»Das Hotel brennt«, erklärte sie geduldig.

»Das weiß ich. Ich bin der stellvertretende Direktor der Feuerwehr.« Diese Aussage klang selbst in seinen eigenen Ohren ein bißchen übertrieben. »Es ist nur ein Ehrentitel«, fügte er hinzu-»So wie man die Königin zum Obersten -eines Regiments ernennt. «

»Welche Königin?« erkundigte sich die Frau. »Irgendeine Königin. Jedes Regiment. Nur als Beispiel.« »Sie meinen, das ist alles eine bloße Annahme?« Sie schien enttäuscht zu sein.

Er bebte am ganzen Körper. »Pusten Sie mir nicht aufs Rückgrat«, bat er, »davon bekomme ich Gänsehaut

»Ich muß aber doch atmen«, wandte sie ein. »Wollen wir hierbleiben und uns zusammen braten lassen wie ein Riesen-Schischkebab? Oder gehen wir jetzt nach unten?«

»Wackeln Sie nicht«, erwiderte er und stieg zwei Stufen hinab in die raucherfüllte Dunkelheit. Dann blieb er stehen, um Atem zu holen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Sie bejahte. »Aber versuchen Sie nicht, sich umzudrehen«, bat sie. »Ihr Kinn kratzt. Oder sind Sie vielleicht dabei, mich zu küssen?«

»Aber ganz und gar nicht!« rief er und brachte deutlich zum Ausdruck, wie sehr sie ihn schockierte. »Was für eine Idee!«

»Ach, ich weiß nicht«, bemerkte sie. - Thorne Smith - Norman Matson: Meine Frau, die Hexe. Frankfurt am Main 1989 (zuerst 1941)

 

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