Frauenerziehung, orientalische  Sie setzte die Lippen an die Milch und trank unter Schluchzen. Sie nahm eine Handvoll Kuskus und stopfte sie sich in den Mund. Aber sie war gar nicht hungrig. Sie hatte gerade gegessen - und zwar mehr als sonst. Ihre Mutter war wieder am Nörgeln gewesen wegen ihrer spitzen Knochen, ihrer Derbheit, daß kein Mann sie je würde haben wollen, ein Mädchen, das aussah wie ein Wüstenstrauß. Also hatte sie sich gezwungen, mehr zu essen. Jetzt war sie satt: Noch ein Bissen, und sie würde kotzen. Der Brei blieb ihr im Hals stecken.

Bu Khalum war außer sich. Er brüllte und peitschte drauflos, bis ihm der Hals weh tat und der Arm lahm wurde. „Jetzt wird nicht mehr Seilhüpfen mit den andren Mädchen gespielt, keine Lektionen mehr, kein Körbeflechten - gar nichts. Du wirst hier sitzen bleiben, auf diesem Kissen, und nur noch essen, bis du volljährig bist. Du wirst essen, und du wirst wachsen. Du wirst schön sein. Hörst du? Schön!" Mohammed Bello und die anderen sahen zu. Von Zeit zu Zeit nickte einer von ihnen beifällig. Fatima aß. Weinte und aß. „Und wenn du volljährig bist, wirst du weiter essen — Tag und Nacht. Das ist deine Pflicht. Vor deinem Vater und vor deinem Mann. Er wird auch eine Gerte haben!" schrie ihr Vater. „Eine Gerte, so wie die hier. Und er wird dich prügeln, wie ich dich jetzt prügle, und ich werde dich morgen prügeln, und übermorgen und den Tag danach!" Plötzlich waren die nackten Honoratioren auf den Beinen, als wäre dies eine Art Stichwort gewesen. Fatima sah auf, die Backen prall mit Brei, und schluckte: Eine gräßliche, unnatürliche Veränderung war mit ihnen vorgegangen. Wo sie vorher schlaff gewesen, waren sie jetzt steif. Die verschrumpelten alten Truthähne hatten plötzlich geschwollene Schwänze, und sie kamen ihr immer näher. „Prügeln!" kreischte ihr Vater, und sie begannen zu wichsen, klatschig und matschig ihre Ruten zu melken, die Gesichter angestrengt und fern, beinahe entrückt.

Fatima fühlte sich wie aus Wachs. Ihr Kopf schwebte davon. Sie fiel hinab, taumelte durch Äonen, Abgründe der Erde, hinein in die bodenlose Tiefe. Dann spürte sie die ersten paar Tropfen, wie Regen, niederfallen.

Nach dieser Nacht der Wunden und der Traumata aß sie. Sie aß ungeheure Mengen, aß wie rasend, konnte gar nicht genug kriegen. Zuckerdatteln, Lammfleisch, Joghurt, löffelweise Salz, Kuskus mit Dörrfisch, Kuskus mit Nüssen, Kuskus mit Kuskus. Im Süden gab es Obst - Tamarinden, Maniok, Wassermelonen -, flache Brotlaibe, Töpfe mit wildem Honig, Yamwurzeln, Mais, Butter und Milch, Milch, immer wieder Milch. Ziegenmilch, Kuhmilch, Kamelmilch -sie nuckelte sogar wie ein Säugling am Busen einer stillenden Sklavin. Sie war unersättlich. Sie aß aus Angst, sie aß aus Rache. Sie aß für die Schönheit.    - T. Coraghessan Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990

 

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